Die Flut im Wupper-Tal – déja vu

 

Am 14. Juli 2021 teilte um 21 Uhr der Talsperrenbetreiber der Stadt Wuppertal mit, dass bald die Wupper-Talsperre überlaufen werde. Um 23 lief sie über und überflutete die Stadt – trotz Warnungen wurde in den Tagen zuvor kein Wasser aus der Talsperre abgelassen und ein Überfluten so möglicherweise verhindert. Der Talsperrenbetreiber gibt zu erkennen, dass er erst dann Vorsorge zu treiben gewillt war und weiterhin ist, wenn die Niederschlagsprognose soweit in ihrer Regionalisierung verbessert ist, dass das betroffene Gebiet Tage voraus präzise bestimmt ist und er keinen wirtschaftlichen Schaden durch vorschnelles und eventuell unnötiges Ablassen erleidet.

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann



 

Das Geschehen in Wuppertal am 14. Juli 2021

Jahrhundertelang ist das Wasser der Wupper in Wuppertal, damals noch Elberfeld und Barmen, regelmäßig über die Ufer getreten. Als es in der ersten Phase der Frühindustriealisierung zur völlig überbevölkerten Weltstadt wurde, entstanden Favela-artige Siedlungen nahe am Flusslauf, die regelmäßig überflutet wurden. Friedrich Engels hat das als Schüler wahrgenommen. Er hat dieses grausame regelmäßige Absaufen-Lassen als Symptom für die Doppelzüngigkeit seiner pietistischen Sippe erkannt – und wurde darüber Sozialist. Für das Tal der Wupper wurde schließlich die Konsequenz gezogen, oberhalb, im Wupper-Einzugsgebiet, ein System von Talsperren zu errichten. Seit einem guten Jahrhundert war Wuppertal dadurch vor Flutereignissen wie nun im Ahrtal im wesentlichen geschützt. Diese goldene sorgenarme Zeit ging in den Nachtstunden des 14. Juli 2021 zu Ende.

Um 21 h teilte der Talsperrenbetreiber der Stadt Wuppertal mit, dass alsbald die Wupper-Talsperre überlaufen werde. Mit Ta-tü-ta-ta versuchte die Stadt die Anwohner zu warnen. Im Stadtteil Beyenburg wurden zur Warnung die Kirchenglocken Sturm geläutet. Um 23 h war es soweit: Die Talsperre lief über. Am nächsten Tag teilte der Verantwortliche, der Wupperverband, achselzuckend mit:

In der Spitze wurden aus der Wupper-Talsperre über 185 Kubikmeter Wasser pro Sekunde abgegeben. Da die Talsperre keinen Freiraum mehr hatte, wurde so viel Wasser abgegeben, wie sie von oberhalb gelegenen Gewässern zugeführt bekam. Diese Menge wäre auch ohne die Talsperre in der Wupper geflossen.“

Das heißt der Naturzustand, ohne Talsperren, war wiederhergestellt: Zufluss gleich Abfluss. Ein Management der Fluten gab es nicht mehr. Der Talsperrenbetreiber musste kapitulieren. Und signalisierte zugleich: Uns trifft keine Schuld, wir konnten nicht anders. Zudem gilt: Mit einem Hochwasserfrühwarnsystem ist diese Konstellation nicht in den Griff zu bekommen. Das Hochwasser hier war menschengemacht. Zu warnen wäre gewesen, rechtzeitig, vor den Talsperrenmanagement-Entscheidungen des Betreibers.

Und es gilt: Aus den beiden Tatsachen, dass die Talsperre überlief und dass der Betreiber in seiner Kommunikationsstrategie in den Schuld-Abwehr-Modus gegangen ist, folgt nicht, dass er Schuld hatte.

Was war beim Talsperrenbetreiber geschehen?

Talsperren haben nicht allein dem Hochwasserschutz zu dienen, sie haben vielmehr mehrere Funktionen beziehungsweise Ziele. Folglich sind Zielkonflikte programmiert. Etliche Talsperren sind zugleich Trinkwasser-Reservoire; andere dienen auch der Naherholung; die Wupper-Talsperre hat, so die rechtliche Vorgabe, als zweites Ziel, soviel Wasser in der regenreichen Zeit zu speichern, dass in der als ausnahmslos regenarm unterstellten Sommerzeit immer noch hinreichend viel Wasser abwärts gelassen werden kann, dass gewisse Biotope im Flusslauf keinen Schaden nehmen. Das mit Ende der Wintersaison gespeicherte Wasser ist somit ein Schatz für den Sommer, viel Geld wert.

Diese Maßgabe hält sich noch an die alten Bauernregeln, die aus jahrhundertelanger Erfahrung begründet sind. Man unterstellt immer noch, was vormals galt, als der Klimawandel noch nicht das Wettergeschehen revolutioniert hatte: Nur im Herbst und Winter gebe es regenreiche Perioden. „Werch Illtum“ würde Ernst Jandl dazu sagen.

Atypischerweise sagte Anfang Juli 2021 der Deutsche Wetterdienst (DWD) für eine Zeit mitten im Sommer eine Situation großflächigen und anhaltenden Extremniederschlags voraus. Wobei gilt: So atypisch war das aktuelle Wettergeschehen als solches nicht, 2002 hatten wir, ebenfalls im Sommer, im Erzgebirge eine ähnliche Wetterlage – die Weisseritz-Talsperre lief damals über, das Flüsslein nahm sein altes Bett wieder ein und setzte unter anderem Dresdens Zwinger unter Wasser.

Je näher der 14. Juli 2021 rückte, desto genauer waren die DWD-Prognosen der regional zu erwartenden Niederschlagsmengen geworden. Der Wupperverband teilte im Nachhinein mit:

Vor dem Hochwasserereignis hat der Wupperverband die vom DWD eingegangenen Prognosen in sein Handeln einbezogen. Diese Prognosen waren am Wochenende und zum Wochenbeginn am 12.07. zunächst noch mit deutlichen Unsicherheiten behaftet bzgl. der Regenmengen und bzgl. der genauen Lage des Regengebiets. Am Dienstag, 13.07., lautete die Prognose, es könnten lokal in einem Streifen vom östlichen Münsterland bis in die Eifel Regenmengen von über 100 Litern pro Quadratmeter in 24 Stunden möglich sein.

Tatsächlich brachte der Starkregen am 14.7. flächendeckend Regenmengen zwischen 120 und 160 Litern pro Quadratmeter. Dies betraf weitgehend das ganze 813 Quadratkilometer große Einzugsgebiet der Wupper.

In dieser Dimension und flächendeckenden Ausbreitung gab es zu keinem Zeitpunkt eine seriöse Vorhersage für das Wuppergebiet.

Anhand der Prognosen vom Sonntag 11.07. und Montag 12.07. hatte der Wupperverband ab Montag 12.07. begonnen, vermehrt Wasser aus den Brauchwassertalsperren oberhalb der Wupper-Talsperre und auch aus dieser selbst abzugeben, um Freiraum zu schaffen.

Der Talsperrenbetreiber gibt zu erkennen, dass er erst dann Vorsorge zu treiben gewillt war und weiterhin ist, wenn die Niederschlagsprognose soweit in ihrer Regionalisierung verbessert ist, dass das betroffene Gebiet Tage voraus präzise bestimmt ist. Das zu erreichen dürfte die Meteorologie noch mindestens Jahrzehnte beschäftigen – für absehbare Zeit ist das Errreichen des vom Wupperverband gesetzten Auslösekriteriums ein Ding der Unmöglichkeit. Der Talsperrenbetreiber sagt also am Tage nach dem Desaster: Das nächste Mal werden wir es wieder so machen. Eine so unverblümte Konflikt-Kommunikation erlebt man selten.

Dessen ungeachtet gilt: Das Dilemma, vor dem der Talsperrenbetreiber sich sah, ist in diesen seinen Sätzen deutlich formuliert. Er stand, und steht immer wieder, vor der hinsichtlich der Sicherheit der Folgen so asymmetrischen Entscheidung: Soll ich den Spatz in der Hand, den Millionen-werten Wasservorrat, wirklich aus der Hand geben für eine Taube auf dem Dach, dass sich die örtlich unpräzise angekündigten Regenmengen tatsächlich im Wupper-Verbandsgebiet abregnen? Was wäre, wenn ich das Wasser ablasse – und die Regenmengen gehen beim Nachbarverband nieder, meine Vorsorge war für die Katz? Der Wupperverband stilisierte und quantifizierte sein Dilemma so:

Um diese enormen Regenmengen zu puffern, hätte der Wupperverband die Wupper-Talsperre in kürzester Zeit um mehr als die Hälfte des Stauinhalts entleeren müssen. Um eine solche gewaltige Menge ohne schädliche Wirkung für die Unterlieger in Wuppertal abzuführen, reichte die Zeit von Montag an nicht aus.

Das ist eine Aussage aus rückschauender Perspektive lediglich des 13. Juli, gemacht unter dem Druck eines (selbstgemachten) Schuldvorwurfs. In der Tat, am 13. Juli gab es für den Betreiber keine anderen Optionen mehr. Da war das Kind schon in den Brunnen gefallen, es war lediglich noch nicht unten aufgeschlagen. Andere Entscheidungs-Optionen gab es schon, doch die standen lediglich einige Tage zuvor noch offen. Da war entschieden worden, dem Kind zu erlauben, in einem Hochrisiko-Bereich, dem Brunnenrand, zu spielen.

Das Umweltministerium NRW, welches die Aufsicht über die Talsperrenbetreiber zu führen hat, hatte die Gefahr wahrgenommen – und war an die „Eltern“, die Talsperrenbetreiber, auch herangetreten. Es hatte gefragt: Ist das nicht etwas arg riskant, was Ihr an Füllstand, knapp unter der Oberkante, zulasst? Offenbar setzte sich der Wupperverband in den Tagen zuvor, in den Gesprächen mit dem Umweltministerium, durch.

Erst als der Wupperverband entschieden hatte, nicht rechtzeitig, aus einem Vorsorgeprinzip heraus, hinreichend viel Wasser abzulassen aus dem Verbund von Talsperren im Wuppereinzugsgebiet, hatte er sich implizit für die Lösung entschieden: Seinen eigenen Schaden minimieren, im Ernstfall den Schaden bei den Wupper-Talsperren-Unterliegern herbeiführen. So geschah es dann.

Die Chance, aus dem Weisseritz-Ereignis 2002 zu lernen, wurde vertan

Zur Hochwasser-Katastrophe im Erzgebirge und an der Elbe 2002 wurde beschlossen, Lehren zu ziehen. Es wurde eine Untersuchungs-Kommission eingerichtet, unter Leitung von General a.D. Hans-Peter von Kirchbach. Die lieferte auch alsbald ihren Bericht ab. Der Aspekt „Talsperren-Überlauf“ wegen ungeklärter Zielkonflikte im Talsperren-Management war von der Kommission aber nicht behandelt worden.

So wurde eine Chance vertan „querzulernen“. Die übrigen Talsperrenbetreiber in Deutschland machten die Augen zu und lernten nicht. Inzwischen ist das Weisseritz-Unglück weitgehend vergessen – entsprechend glaubwürdig ist, dass die gegenwärtige Generation von verantwortlichen Amtsinhabern „völlig überrascht“ ist vom jetzigen Geschehen in Westdeutschland. In den Medien werden gerne Statements von Anrainern wiedergegeben des Inhalts „Das habe ich in meinem ganzen Leben hier noch nicht erlebt.“ Richtig, hier ist es erstmalig. Es ist eben auch nur kürzlich in Sachsen passiert.

Der Maßstab, ob diesmal in angemessener Weise Lehren gezogen werden, ist, ob diesmal die Chance zum regionalen „Querlernen“ ergriffen werden wird. Das zu sehen ist nicht schwer. Man wird man daran erkennen, ob der Vorgang „Hochwasserschutz durch Revision der Grundlagen des Talsperren-Managements“ von der UMK und der LAWA, also zwei bundesweit agierenden Fachgremien, an sich gezogen werden wird. Ist das nicht der Fall, dann werden die Amtsträger der nächsten Generation in den 2030er Jahren wiederum völlig überrascht sein. Etc., etc.


Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>