EU-Emissionshandel: Das schwere Erbe der Großen Finanzkrise
Die Große Finanzkrise im Jahr 2008 hat die Klimapolitik der Industriestaaten abstürzen lassen. Die EU hat in der Niedrigpreis-Phase für CO2-Zertifikate nach 2008 weiterhin Emissions-Rechte qua Auktion ausgegeben – massiv unterbewertet. Dies hat die Klimapolitik um mindestens 10 Jahre verzögert. Das bedeutet im Klartext formuliert: Erhöhung des Bestands von Treibhausgasen in der Atmosphäre.
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Die auf UN-Ebene abgestimmten Klimaziele hat die EU schon vor etlichen Jahren in zwei Körbe aufgeteilt. Da gibt es einerseits die viel-emittierenden Großanlagen – auf EU-Ebene für 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, im Industrie-lastigen Deutschland für die Hälfte. Und es gibt andererseits den Rest: die Vielzahl von Kleinquellen, insbesondere im Verkehr, in den Gebäuden und in der Landwirtschaft.
- Die Verantwortung, Emissionen aus den vielen Kleinquellen im Zaum zu halten, hat die EU an die Nationalstaaten weitergegeben. Sie hat außerdem diese Aufgabe mit ernstlich greifenden Pönalen belegt, falls die Mitgliedstaaten ihre Budgets nicht einhalten.
- Die Verantwortung der Budgeteinhaltung durch die Großemittenten hat Brüssel bei sich belassen. Die Europäische Union hat im Jahr 2005 mit dem „Emissions Trading System“ (EU ETS) eine „Bepreisung“ von CO2 für die Großanlagen auf europäischer Ebene eingeführt. Rechnet man, ganz bescheiden, aber diese Größenordnung war die herrschende Erwartung, mit einem spezifischen Wert von 30 Euro pro emittierter Tonne CO2, so kam man damals EU-weit auf ein Wertvolumen, für die Fünf-Jahres-Periode des Kyoto-Protokolls, in Höhe von 300 Milliarden Euro – das stand damals vollständig zur kostenlosen Verteilung an. Relativ zu 300 Milliarden Euro auf einen Schlag sind selbst große Rüstungsgeschäfte Kleinkram.
Das Prinzip des Emissionshandels, seine Tücken und inhärenten Konflikte
Die Pointe des „Emissions Trading System“ (EU ETS) ist, dass es zwei komplementäre Seiten hat. Werden reale Emissionen gesenkt, so ist der Effekt, dass dadurch ungenutzte Rechte frei werden zum Einsatz andernorts beziehungsweise zu anderen Zeitpunkten. Eine reale Emissionsminderung findet, unter einem solchen Regime, somit erst statt, wenn nicht nur Emissionen gemindert, sondern zusätzlich im selben Ausmaß Rechte stillgelegt werden – beziehungsweise schon vorab nicht ausgegeben werden.
Auf der anderen Seite geht es wie folgt zu: Den Eignern der Anlagen wird avisiert: „Ihr werdet enteignet. Das Euch bislang implizit zugestandene Recht, Treibhausgase einfach so in die Atmosphäre zu entlassen, wird beendet. Für jede festgestellte, aus eurem Eigentum emittierte Tonne CO2 habt Ihr in Zukunft ein Recht vorzuweisen!“ Und diese Rechte werden lediglich begrenzt vergeben, das ist ja Sinn der Sache. Die Vergabe geschieht in Mehr-Jahres-Perioden gebündelt, und ihre Menge wird Jahr für Jahr stetig, linear vermindert – es geht gen Null auf Mitte des Jahrhunderts.
Vergeben wurden die Rechte in der EU anfangs zu einem erheblichen Teil kostenlos – für Anlagen der Energiewirtschaft wurde das umgehend, ab 2008, beendet. Rechte werden von den Staaten qua regelmäßigen Auktionen in Verkehr gebracht. Das bedeutet: Diese Rechte sind Quelle von Staatseinnahmen geworden, eine potentiell sehr kräftig sprudelnde. Über die Verteilung der Eiinahmen hatte es eine intensive Auseinandersetzung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der EU-Ebene gegeben. Freirechte gibt es noch, überwiegend für Anlagen in Branchen, die stark einem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind – wenn sie denn nachweisen, dass sie zur Treibhausgas-Reduktion technisch getan haben, was möglich und angemessen ist.
Die Finanzkrise und ihr Bombenkrater im ETS
Im Europäischen ETS gilt ein wirkliches Budget, jedes Jahr zählt – lückenlos. Die jährlichen Rechte, die im ETS bisher verteilt worden sind, sind Phasen zugeteilt. Im Zentrum steht die Zielphase des Kyoto-Protokolls, von 2008 bis 2012. Diese „Phase 2“, fünf Jahre umfassend, ist unglücklicherweise diejenige geworden, die von der Großen Finanzkrise 2007 betroffen wurde, der von ihr ausgelösten Rezession. Die Differenz zwischen verausgabten und in Anspruch genommenen Emissionsrechten ergab durch diese Rezession alljährlich einen Überschuss, kumuliert führte das zum Aufbau eines Bestandes an gehorteten Rechten. Das manifestierte sich als rasch aufsteigende Linie mit einem Bestand in 2012 in Höhe des gesamten Bedarfs eines Jahres in der EU. Verantwortlich für den Rechteüberschuss ist allerdings nicht allein die interne Überallokation aufgrund der unvorhergesehenen Rezession. Es gibt eine weitere Quelle, die noch bedeutsamer ist. Davon gleich mehr.
Die Bildung des Überschusses in dieser enormen Größenordnung wurde von der EU tatenlos hingenommen. Das Recht der Rechtezuteilung für einen solchen Notfall an eine zu kurzfristigem Handeln befähigte Instanz zu delegieren, wie es bei der Geldmengensteuerung der Fall ist, war nicht vorgesehen worden bei der Konzipierung des EU ETS. Dabei hatten Wissenschaftler diese Analogie sehr wohl zum Thema gemacht. Die Option war aber ausgeschlagen worden.
Der Effekt des Aufbaus eines Vorrats an Emissionsrechten war jedenfalls: Es musste die Preise verhageln. Es kam nicht im entferntesten zu dem angestrebten Preisniveau von rund 30 Euro pro Tonne CO2. Und es verhagelte überdies den Mitgliedstaaten und der EU-Ebene die Einnahmen, auf die diese gesetzt hatten und aus denen sie wesentliche Aktivitäten ihrer Klimapolitik zu finanzieren beabsichtigt hatten.
Im Ergebnis ergab sich der folgende Verlauf der Preise für Emissionsrechte (EUA): In der ersten Periode des Kyoto-Protokolls, der „Trainingsperiode“ vor 2008, fing es bei gut 20 Euro pro Tonne an CO2 – und stürzte dann alsbald ab, als sich die faktische Überallokation zu zeigen begann. Da ein Transfer eines Überschusses an Rechten aus dieser Probe-Periode in die erste echte Periode ausgeschlossen worden war, stellte sich der Preis dann alsbald auf Null. In der Kyoto-Periode begann es wiederum wohlgemut bei rund 20 Euro pro Tonne CO2 – und dann ging es alsbald, im Gefolge der Finanzkrise, auf 10 Euro pro Tonne CO2 herunter und schließlich auf 5 Euro pro Tonne CO2.
Bei der zweiten Quelle, welche zu dem Aufbau des enormen Rechte-Überschusses in der zweiten Handelsperiode von 2008 bis 2012 beigetragen hat, handelt es ich um einen Rechte-Import aus Drittstaaten. Es handelt sich dabei um die sogenannten „Mechanismen“ (engl. „offsets“). Da werden Projekte in Drittstaaten durchgeführt, die zu einer Minderung der Emissionen von Treibhausgasen führen – und der Minderungseffekt wurde qua Rechte-Transfer im EU-Handelssystem gutgeschrieben. Von diesen „offsets“ gibt es zwei Arten, in Abhängigkeit von den Herkunftsstaaten und deren klimapolitischer Verpflichtung:
- Da gibt es einmal diejenigen Staaten, die die unter dem UN-Regime einer Deckelung ihrer territorialen Treibhausgasemissionen insgesamt unterliegen – also die „Industriestaaten“ im klimarechtlichen Sinne.
- Und es gibt zudem Staaten der Dritten Welt, die keiner gesamtstaatlichen Begrenzungspflicht unterlagen. In deren Richtung hatte die EU, die die Verabschiedung des Kyoto-Protokolls zu einem ihrer politischen Kernanliegen gemacht hatte, konditionierte Importzusagen in erheblichem Umfang gemacht – die Bedingung war der Beitritt zum Kyoto-Protokoll. Die dazu gemachten Zusagen waren dann später, auch bei drastisch verminderter EU-interner Nachfrage, zu honorieren.
Das Volumen des Rechtezuflusses aus dem offset-Import hat den deutlich überwiegenden Beitrag zum akkumulierten Überschuss ausgemacht.
Résümée: Der Bombenkrater besichtigt
Zusammengenommen bedeutet das: Die Große Finanzkrise hat die Klimapolitik der Industriestaaten abstürzen lassen, aufgrund der zufälligen Koinzidenz, dass sie direkt vor Beginn der Anrechnungsperiode des Kyoto-Protokolls eintrat. Dies hat die Klimapolitik in eine dilatorische Phase von etwa 10 Jahren (mindestens) geführt. Die Konsequenzen dieser „Verzögerung“ kann man in etlichen Dimensionen festmachen. Hier seien zwei herausgegriffen:
- „Verzögerung“ ist im Kontext der Klimapolitik ein Ausdruck, der ein untertreibendes Narrativ bedient. Die strukturelle Pointe der Klimaherausforderung ist deren Budget-Charakter – ein Temperaturbegrenzungsziel wie zum Beispiel „maximal + 2 Grad C gegenüber vorindustrieller Zeit“ entspricht einem (Rest-)Budget noch emittierbarer Tonnen an Treibhausgasen. Deswegen bedeutet „Verzögerung“ der sogenannten „Mitigations“-Politik im Klartext formuliert: Erhöhung des Bestands von Treibhausgasen in der Atmosphäre, und gleichzeitig Minderung des noch zu Verfügung stehenden Restbudgets. Das ist mehr als lediglich ein „Verschieben“ der Aufgabe von der gegenwärtig an den Hebeln der Macht sitzenden Generation auf die nächste.
- Der Aufbau eines Überschussbestands von Rechten, von potentiellen Vermögenswerten, hat zu einer massiven Unterbewertung aktuell ausgegebener Rechte, über knapp eine Dekade, geführt. Die EU hat Remedur-Maßnahmen ergriffen, und die haben diese Niedrigpreis-Phase inzwischen beendet. In dieser Zeit sahen die EU und ihre Mitgliedstaaten sich aber verpflichtet, weiterhin Rechte qua Auktion auszugeben – dann massiv unterbewertet. Man kann im Rückblick das Volumen von Mindereinnahmen beziffern, welches den Staaten in dieser Phase entstanden ist. Das dürfte in der Größenordnung von gut 300 Milliarden Euro liegen.
Der Vermögensgewinn der Halter des Bestands an Emissionsrechten, in der Höhe von rund zwei Milliarden Tonnen CO2, bei einer Sanierung des Systems, das heißt bei einer Belebung von 5 Euro pro Tonne CO2 ausgehend, wird mit dem Erreichen des Preis-Ziels von 30 Euro pro Tonne CO2 bei 50 Milliarden Euro liegen.