Finanzielles zur Bewältigung multipler Krisen
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Aktuell und mit Blick auf die EU meine ich die drei Krisen mit den Stichworten: „SARS-CoV-2-Epidemie“, „Klimaherausforderung beziehungsweise Energiewende“ und „Krieg um die Ukraine, inklusive Energiesanktionen“. Die zu bewältigen, ist die Politik gefordert. Das richtet sich in Europa überwiegend an die EU. Dazu braucht es Geld.
Die Nationalstaaten, die Mitglieder der EU sind, sind überwiegend bis an die Grenze des Möglichen bereits verschuldet, manche auch darüber hinaus – Deutschland zählt zu den großen Ausnahmen. Angesichts dessen hat die erste der drei Krisen, die zu Covid 19, dazu geführt, dass die bislang eisern verschlossene Schleuse geöffnet wurde: Die bislang unverschuldete Ebene „EU“ war kreditfähig zu machen, um über sie zusätzliche Geldmittel in die Mitgliedstaaten zu leiten. Im Verlauf des Jahres 2020 wurde dieser Grundsatz-Konsens operationell entwickelt, am 14. Dezember 2020 wurde, so der Wortlaut,
„die Kommission … ausnahmsweise ermächtigt, vorübergehend Mittel in Höhe von bis zu 750 Mrd. € zu Preisen von 2018 an den Kapitalmärkten aufzunehmen, um die Auswirkungen der COVID‑19-Krise zu bewältigen.“
Am 11. Februar 2021 schließlich hat der Europäische Rat die Verordnung zur Einrichtung der „Aufbau- und Resilienzfazilität“ angenommen. Die mit 672,5 Milliarden € ausgestattete Fazilität – das Kernstück des Corona-bedingten Aufbauinstruments „NextGenerationEU“ – sollte den Mitgliedstaaten helfen, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID‑19-Pandemie zu bewältigen. Pointe war, dass die Mittel mehreren Zwecken zu dienen hatten, auch die Unterstützung des ökologischen und digitalen Wandels sollte sichergestellt werden. „Unterstützung des ökologischen Wandels“ hieß: Die Mittel sind klimapolitisch zu verwenden.
Nun sind der kinetische Krieg Russlands in der Ukraine und die energiepolitischen Gefechte zwischen der EU und Russland in dessen Gefolge als dritte Großkrise hinzugekommen. Das nimmt die EU-Mitgliedstaaten in einem Maße makroökonomisch in die Zange, dass die ökonomischen Konsequenzen der „SARS-CoV-2-Epidemie“ dagegen klein erscheinen. Also liegt auf der Hand, nach demselben Rezept noch einmal zu verfahren – zumindest im Prinzip. Die Erwartung, dass die EU-Kommission erneut an die Kreditmärkte geht, lag der Kritik anderer Mitgliedstaaten an Deutschlands nationalen 200 Milliarden-Paket zur Gaspreisbremse, offiziell zur „Reaktivierung und Neuausrichtung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds“, zugrunde. Der Gang der EU an die Kreditmärkte ist aber gleichsam schon ‚abgefrühstückt’. Zur Beschaffung erneut zusätzlichen Geldes brauchte es neue kreative Ideen. Und Bescheidung auf deutlich geringere Volumina direkt aus der EU-Kasse.
Was im Jahre 2020 „NextGenerationEU“ war, ist nach Beginn des Einmarsches Russlands in die Ukraine „REPowerEU“ geworden. Sinn war, sich bei den Bezügen fossiler Energieträger schneller unabhängig zu machen von Russland, indem die klimapolitisch angelegten Energiepläne angezogen werden: Es sollte frühzeitiger mehr an „Power“ aus „REnewables“ erreicht werden. Konkret soll den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen im Rahmen von NextGenerationEU ein REPowerEU-Kapitel hinzugefügt werden. Da sind nationale Investitionen und Reformen zu formulieren, die zur Verwirklichung der REPowerEU-Ziele beitragen werden. Dafür braucht es Finanzmittel, die für die notwendige Infrastruktur genutzt werden sollen, um vor allem vom russischen Gas wegzukommen.
In seinem Standpunkt vom 4. Oktober 2022 änderte der Rat den Vorschlag der Kommission zur Herkunft der zusätzlichen 20 Milliarden € für REPowerEU. Finanziert werden soll RePowerEU nach Vorstellungen der Regierungen der Mitgliedstaaten durch den bestehenden Innovationsfonds (75 Prozent) und und nur ergänzend durch die vorzeitige Abgabe von Emissionshandelszertifikaten (25 Prozent).
Das Parlament hingegen möchte die gesamten 20 Milliarden € in REPowerEU durch eine Vorab-Versteigerung von Emissionszertifikaten finanzieren. Die Mittel sollen also aus dem EU ETS, aus den zu versteigernden Emissionsrechten des Emissionshandelssystems, kommen. Die Kommission hatte ursprünglich den Vorschlag gemacht, einfach aus der dortigen Reserve Rechte zu entnehmen und zu Geld zu machen. Das wurde zum Glück verhindert, denn das hätte die Stringenz der Anforderungen an die Industrie zur Emissionsminderung verwässert. Nun ist lediglich vorgesehen, den Auktionszeitpunkt nach vorne zu ziehen, was immer noch einen (dämpfenden) Effekt auf die Preise der CO2-Rechte haben wird. Die Geldgenerierung scheint zu Lasten des Klimaschutzes zu gehen, wenn auch nur ein wenig. Ob das so ausgeht, ist aber noch offen, denn parallel findet auch ein Reformprozess zum EU ETS statt – es kann also gut so herauskommen, dass das, was hier in REPowerEU, zu dessen Finnazierung, an Ambition nachgelassen wird, bei der Reform des und Verschärfung der Ziele unter dem EU ETS wieder eingesammelt werden wird.
Die Vorstellung der Regierungen, auf den zur Dekarbonisierung der Industrie gedachten Innovationsfonds zuzugreifen, würde natürlich bedeuten, dass dessen ursprünglicher Zweck eingeschränkt wird. Nicht mehr Geld zu generieren sondern Substitution ist hier die leitende Idee. EU-Parlament und EU-Kommission haben da ganz andere Vorstellungen. Nach ihrem Willen soll der Fonds aufgestockt werden, um der Industrie in der EU die Dekarbonisierung zu ermöglichen. Es wird vom Verhandlungsführer des Parlaments darauf hingewiesen, das ist die industriepolitische Perspektive, dass er viel geringer ausgestattet sei als die entsprechenden Fonds in den Vereinigten Staaten, im dortigen Klimapaket der Biden-Administration (Inflation Reduction Act). Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Dekarbonisierungstechnologien im transatlantischen Verhältnis.
So steht es um die Stellungsbezüge der drei Teilhaber am Gesetzgebungsprozess in Brüssel. Im abschließenden „Trilog“ muss entschieden werden – meist werden es quantitative Kompromisse. Vermutlich werden also 60 Prozent der Geldmittel aus einem Kreditgeschäft mit dem Vermögen des Emissionshandelssystems generiert werden, 40 Prozent durch Umwidmung im Aufbaufonds.