Kommunale Selbstverwaltung durch die neue ukrainische Verfassung
Ein steiniger Weg zum Modus vivendi im kriegsgeplagten Land
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
In der Ukraine sind für den 25. Oktober 2015 Wahlen zu Kommunalvertretungen angesetzt, soweit diese unter Kiewer Herrschaft stehen. Sinn ergeben solche Wahlen nicht so recht, aber sie stehen im Kalender, auf Basis der überholten ukrainischen Verfassung. Faktisch dienen sie eher einem nationalen Stimmungstest im Blick auf die nächsten nationalen Wahlen: für das Präsidentenamt und für das Parlament. Diese Wahlen werden dann schon unter der neuen Verfassung durchgeführt werden, die im Dezember in der Rada, dem Kiewer Parlament, zur Schlussabstimmung ansteht ‑ wenn denn damit alles wie geplant verläuft.
Erst dann, nachdem die Ukraine endlich ihre neue Verfassung verabschiedet und bekommen hat, würden Kommunalwahlen eine ernstliche Funktion haben. Denn im Verfassungsentwurf ist eine neue Ordnung der Kompetenzen zwischen Kommunen und Kiewer Zentrale enthalten.
Schon im Jahr 1995 hatte der Europarat seinem Neumitglied Ukraine gesagt: In Europa zählt die kommunale Selbstverwaltung zum Wesen der Demokratie. Wenn Ihr Mitglied des Europarats auf Dauer sein wollt, müsst Ihr das in Eurer Verfassung ändern. Diese Verfassungsänderung steht in der Ukraine seit gut einem Jahrzehnt auf der politischen Tagesordnung. Nun scheint sie, wieder einmal, kurz vor dem Abschluss zu stehen.
Und jetzt, auf den letzten Metern, wird die Debatte um die Verfassungsänderung in der Ukraine kriegs-ideologisiert, auch in Kommentaren westlicher Medien: Es heißt, bei der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung handle es sich um eine Maßgabe der Minsker Vereinbarungen beziehungsweise um ein Zugeständnis an Russland. Kampfbegriffe sind dann „Dezentralisierung“ und, noch schlimmer, „Föderalisierung“ (was im Verfassungsentwurf in der Tat nicht vorgesehen ist). Julia Timoschenko versucht sich hier beim Stimmenfang in einer Rolle, wie sie in Griechenland Alexis Tsipras gespielt hat – für die äußeren Garantiemächte jedoch ist es unerheblich, welche ukrainische Regierung es ist, die innen umsetzt, was außen vereinbart worden ist.
Erfüllung der restlichen Minsk-Punkte
Wesentlich ist, dass der Modus vivendi, der in der Abmachung von Minsk am 12. Februar 2015 in 13 Punkten definiert wurde, in allen Punkten umgesetzt wird. So betonen es die äußeren Mächte ein ums andere Mal. Die Kiewer Seite, im Verbund mit den westlichen Medien, hat eine andere Lesart von der inneren Logik der Minsker Vereinbarungen. Philologisch-rechtlich ist die auch möglich.
Die 13 Punkte beginnen mit dreien zu militärischen Punkten, zu Waffenstillstand und Waffenrückzug, immer zeitlich nacheinander gestaffelt, mit präzisen relativen Terminvorgaben. Punkt 4 beispielsweise sagt: „Beginne einen Dialog, am Tag 1 nach dem Rückzug von Waffen …“
Man kann das so lesen: Solange die Waffen nicht schweigen beziehungsweise nicht zurückgezogen sind, sei die Voraussetzung dafür, auf den nächsten Punkt einzutreten, noch nicht gegeben und die Uhr für den Start des nächsten Punkts erst zu ticken, wenn der davor vollständig umgesetzt worden ist. Aberso ist es natürlich nicht gemeint von den äußeren Mächten. Indiz dafür ist, dass es für den gesamten Prozess einen zeitlich fixierten Endpunkt gibt, „Ende 2015“: Punkt 9 des Minsk-Abkommens besagt, dass der Prozess der Wiedergewinnung der vollen Kontrolle der Ukraine über ihre Grenzen beginnen solle „am Tag 1 nach den Kommunalwahlen“ (im Osten) und abgeschlossen werden solle nach der Vereinbarung eines „umfassenden modus vivendi, einschließlich Kommunalwahlen auf Basis ukrainischen Rechts und einer geänderten Verfassung, auf Ende 2015“. Weshalb die westlichen Medien trotz dessen die „philologische“ Kiewer Sicht durchgängig teilen, ist mir in den Motiven unverständlich.
Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH. |
Gegenwärtig stehen diejenigen Punkte im Mittelpunkt der Verhandlungen, wo es in Kiew hakt. Dazu zählt die Verpflichtung seitens des ukrainischen Präsidenten, in Konkretisierung seiner Zusage vom 5. September 2014 („Implement decentralization of power“),
- a) die neue Verfassung der Ukraine noch in 2015 zu verabschieden; und
- b) im Zuge dieser Verfassungsänderung Spezifisches für einen Modus Vivendi zwischen der Kiewer Seite und den Rebellengebieten umzusetzen.
In der präzisierten Fassung vom 12. Februar 2015 lautet die Verpflichtung im Original wie folgt:
„11. Durchführung einer Verfassungsreform in der Ukraine mit Inkrafttreten einer neuen Verfassung zum Ende des Jahres 2015, die als Schlüsselelement eine Dezentralisierung (unter Berücksichtigung der Besonderheiten der gesonderten Kreise der Gebiete Donezk und Lugansk, die mit den Vertretern dieser Kreise abgestimmt ist,) enthalten soll, und ebenfalls die Verabschiedung einer Gesetzgebung bis Ende 2015 zum besonderen Status gesonderter Kreise der Gebiete Donezk und Lugansk entsprechend den Maßnahmen, die in der Anmerkung angegeben sind.“
Die genannte Anmerkung enthält acht ausführliche Maßgaben – eigentlich schwer, sich darüber noch groß streiten zu können. Dennoch geschieht es.
Die Zusage, etwas mit den Vertretern der Separatisten abzustimmen, versucht Kiew über die Teilnahme an den trilateralen Arbeitsgruppen unter OSZE-Vorsitz zu erfüllen. Die politische Arbeitsgruppe, zu deren Themenfeld Verfassungsänderung und Wahlbedingungen gehören, wird von dem französischen Diplomaten Philip Morel geleitet. In dieser Arbeitsgruppe wird das ukrainische Gesetz „Zur zeitweiligen Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in einzelnen Kreisen der Gebiete Donezk und Lugansk“ abgestimmt.
Die von Morel dazu eingebrachten Vorstellungen werden bislang von Kiew noch vehement und öffentlichkeitswirksam abgelehnt. Um diese Kuh vom Eis zu bekommen, brauchte es das erneute Eingreifen der Staatschefs des Normandie-Formats, am 2. Oktober in Paris. Ergebnis ist, dass die Abarbeitung der ausstehenden Schritte zeitlich geordnet wurde und Russland zusagte darauf hinzuwirken, dass die Lokalwahlen der Separatisten, die parallel zur Kommunalwahl in der Ukraine angesetzt worden waren, erst stattfinden, wenn die rechtlichen Voraussetzungen in Kiew endlich beschlossen sind. Damit besteht Einvernehmen, dass der Endtermin „Ende 2015“ für die vollständige Wiedererlangung der Grenzhoheit durch die Ukraine ins Jahr 2016 hinein verschoben wurde. Die Separatisten haben umgehend zugestimmt, ihr neuer Wahltermin ist nun der 21. Februar 2016. Der zu spielende Ball, das Schaffen der rechtlichen Voraussetzungen dafür, liegt nun fast allein im Kiewer Spielfeld. Er wird aber erst nach der Kommunalwahl am 25. Oktober gespielt werden. Dann aber müssen bald Tore fallen.