Staatsanwaltschaften als Schwarze Löcher des Rechtsstaates
Wer entscheidet, was Recht ist?
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Der Staat schützt den Bürger nicht allein durch Abwehr handfester krimineller Gewalt, er schützt ihn auch gegen „Gewalt“ im übertragenen Sinne – zumindest hat er den Auftrag dazu. Quellen socher Gefährdung sind zerstörerische Potentiale der Wirtschaft: einerseits aus Herstellung und Anwendung von physischen Produkten, andererseits von Produkten der Finanzwirtschaft. Wir wollen eben weder vergiftet werden noch unserer Existenzgrundlage oder unserer Vermögen beraubt werden.
Beauftragt mit der Anbahnung entsprechender Rechtsdurchsetzung ist die Staatsanwaltschaft als zentraler Bestandteil des „Rechtsstaates“. Im europäischen Kulturraum, der sich neuzeitlich dadurch konstituiert hat, dass er sich die Gewaltenteilung aufs Panier schrieb, ist die Organisationsform, die den Staatsanwaltschaften jeweils gegeben wurde, völlig unterschiedlich.
In Italien zählte die Anklagebehörde einstmals zur Judikative; sie war, dem Montesquieuschen Modell gemäß, unabhängig etabliert. Nur: Im Ergebnis haben die Staatsanwaltschaften es geschafft, die Politikerkaste der Demokratia Christiana zu stürzen. Unter dem Namen „Mani pulite“ ist diese Revolution in den frühen 1990er Jahren in die Geschichtsbücher eingegangen. Geführt hat sie auf Dauer auch nur zum Weiterwirken korrupter Sitten – und gar zu Berlusconi. Vergleichbare Konstellationen sind, nach Auffassung der dort Herrschenden, in der Türkei und in Brasilien akut. Im Interesse der Herrschenden ist eine völlige Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften nicht zu empfehlen: zu gefährlich.
In den USA ist die Staatsanwaltschaft zum Wahlamt gemacht worden – Amtsinhaber, die wiedergewählt werden wollen, müsssen deshalb öffentlichkeitswirksam bis populistisch agieren. Zudem fließen Strafsummen in den öffentlichen Haushalt des jeweiligen Bundesstaates, was ein „fiskalisches“ Interesse in die Rechtsdurchsetzung bringt. Ob beides der Gerechtigkeit dient, sei dahingestellt.
In Frankreich sind Staatsanwaltschaften Teil der Departemente – sie teilen damit das Proflierungsbedürfnis der Departements-Leitungen gegenüber dem Zentralstaat. Das Vorpreschen, um nicht zu sagen die Vorverurteilung, die der Marseiller Staatsanwalt Robin im Falle des Germanwings-Flugs 4U 9525 sich herausgenomen hat, erklärt sich als Profilierung gegenüber der zentralstaatlichen Flugunfalluntersuchungsstelle BEA.
In Deutschland gehört die Staatsanwaltschaft ebenfalls nicht zur – unabhängigen – Judikative, sondern sie ist abhängig: Staatsanwaltschaften sind weisungsgebundene Behörden der Justizministerien in den Ländern. Was im Prinzip auf der einen Seite erstmal besser ist als eine monolithische Zentralstaatsanwaltschaft.
Die Organisationsform der Staatsanwaltschaften, die in Deutschland einheitlich gewählt wurde, ist allerdings immer noch unangemessen: sowohl angesichts der politischen Tendenz zum Schutz regionaler Klienten, ganz offenkundig aber, sofern der Staat selbst zu den schädigenden Akteuren gehört. Ich vermute für die Maxime bei der Entstehung einen preußischen Hintergrund, als noch galt, dass der Staat immer recht hat und Beamte in der Unparteiischkeit ihrer Amtsführung grundsätzlich über alle Zweifel erhaben sind.
Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH. |
Der Holzschutzmittel-Fall
Ich selbst habe viel gelernt am sogenannten Holzschutzmittel-Fall. Da war in den 1960er Jahren ein PCP-haltiges Mittel zur Verwendung im Innenbereich zugelassen worden – was sich im Nachhinein als bautechnisch nicht einmal erforderlich erwies –; und das wurde dann auch fleißig verbaut. PCP diente als Insektizid, seiner lebenszerstörenden Eigenschaften wegen. Auch der Mensch ist ein Lebewesen. Der Einsatz von PCP im Innenbereich musste dazu führen, dass die Bewohner damit behandelter Gebäude das Mittel aufnehmen. Die Folgen waren eine Tortur für sie.
Am schlimmsten war folgender Regelkreis: PCP machte die Hausbewohner krank bis zur Arbeitsunfähigkeit. Die betroffenen Häuser waren meist selbstgenutzte Eigenheime, auf Kredit bezahlt. In dieser Situation, erst recht bei Ausfall ihres Arbeitseinkommens, waren die Bewohner wirtschaftlich nicht in der Lage, ihre dauerschädliche Wohnstätte zu verlassen – sie waren in „Kreditknechtschaft“ und gezwungen, sich weiter zu vergiften. Aus einem Zwang heraus, der für die meisten Betroffenen strukturell ähnlich war.
Der Holzschutzmittelfall wäre nicht vor Gericht gekommen, wenn die eigentlich zuständige Staatsanwaltschaft am Firmensitz des herstellenden Unternehmens in Nordrhein-Westfalen ihre schützende Hand hätte über das Unternehmen halten können. Dies wurde verhindert, sie wurde auskonkurrenziert durch die Staatsanwaltschaft eines anderen Bundeslandes (Hessen).
Als das Skandalöse strafrechtlich dingfest gemacht worden war, gab es endlich auf zivilrechtlicher Ebene Schadensersatz. Und hier fand sich wohl kein harzigerer Interessenvertreter als zum Beispiel der Bayerische Staat gegenüber seinen Förstern, die in staatlichen Forsthäusern wohnten, wo Holzkonstruktionen beliebt waren. Als Beamte unterstanden sie eigentlich dem besonderen Schutz ihres Dienstherrn. Wenn es um Staatshaftung geht, geht es an die Substanz des Staates.
Dasselbe Schauspiel wie im Holzschutzmittelfall wiederholte sich auf Bundesebene beim Thema Gesundheitsschädigungen von Bedienmannschaften militärischer Radaranlagen. Ein Weiteres: Wenn der US-amerikanische Staat seine Verpflichtungen den Militär-Veteranen gegenüber wörtlich ernst nehmen würde, dann könnte er sich seine vielen Kriege, die er meint führen zu sollen, schlicht finanziell nicht leisten. Was vielleicht so schlecht nicht wäre.
Für uns heute ist unzweifelhaft, dass der Staat Täter sein kann. In solchen Fällen ist Recht nur zu erwarten, wenn die Anklagevorbereitung über politische und organisatorische Abhängigkeiten letztlich nicht in der Hand des Täters liegt. Die Konsequenz dieser Einsicht steht an. Wie das positiv zu organisieren wäre, dafür aber liegen kaum Modelle vor – die Eigenermittlungsgrundsätze der Polizei könnten Anregung bieten. Ich lasse das so stehen.
Die Organisation der Staatsanwaltschaften in Deutschland: Ihre Defizite sind offenkundig, das Desinteresse daran ebenso
Dieses Thema erfährt bislang, ungeachtet seines Opferreichtums, keine politisch relevante Resonanz. Auch die jüngsten Fälle, bei denen ein Spiel von Staatsanwaltschaften über die Bande „Medien“ jeweils eine zentrale Rolle spielte, Wulff und Edathy, führten nicht mit dem gebotenen Nachdruck zu der Forderung, dass die Funktionsweise von Staatsanwaltschaften auf den Prüfstand gehöre. Die Medien, die in den genannten Fällen von der seltsam-intransparenten Pressepolitik der Staatsanwaltschaften profitierten, negieren ihr Mitspiel. Sie sind mit der Jagd nach Personen beschäftigt, gemäß der leitenden Frage: „Wer wusste wann was?“ – und okkupieren mit dieser letztlich nur parteipolitisch interessanten Fragerichtung das öffentliche Bewusstsein, manipulieren es in eine Personen-Hatz-Mentalität. Dabei wollen die Bürger überwiegend nicht Köpfe rollen sehen, sondern die Durchsetzung von Recht erleben. Das braucht Struktur.
Aus der herrschenden Struktur, die das Agieren der Staatsanwaltschaften in Deutschland (fehl-)leitet, ist Zweierlei hervorzuheben.
(i) Für Weisungen (des Justizministers, aber auch behördenintern) bedarf es gegenwärtig nicht einmal der Schriftform. Dieser Mangel scheint mir jedoch symbolisch nur bedeutsam; in der Sache würde seine Beseitigung, nach meinem Urteil, wenig an den vorfindlichen Zuständen ändern. Hierzu gibt es immerhin Ansätze einer Debatte im politischen Raum, zum Beispiel eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag.
(ii) Anders hingegen steht es mit dem „Wirtschaftlichkeitsgebot“, welches für das Handeln der Statsanwaltschaften konstitutiv ist. Hier schaut die politische Öffentlichkeit weg. Staatsanwaltschaften sind chronisch überlastet, sie haben deutlich mehr an Fällen auf dem Schreibtisch, als sie bei gegebener Ausstattung bewältigen können. Was natürlich auch Ergebnis von Politik ist. Staatsanwaltschaften müssen deshalb diskriminieren, sie müssen auswählen, welche Fälle sie ernstlich einem richterlichen Urteil zutreiben und welche nicht. Dafür braucht es Kriterien. Unter den sie leitenden Kriterien ist das sogenannte „Wirtschaftlichkeitsgebot“ das entscheidende.
Das „Wirtschaftlichkeitsgebot“ ist offenkundig ein Effizienzgebot. Zur Anwendung muss es ausgelegt werden. Effizienz ist definiert als Quotient: Im Zähler steht die Leistung, im Nenner stehen die Ressourcen, die für die Erbringung der Leistung aufgewendet werden. Um das Gebot auf Staatsanwaltschaften anwenden zu können, ist zu entscheiden, was als „die“ Leistung in der Strafverfolgung definiert wird. Dazu muss man sich darauf besinnen, was eigentlich das Interesse (der Öffentlichkeit) ist, weswegen manche Taten von Staats wegen strafrechtlich verfolgt werden sollen und nicht nur von (geschädigten) Privaten auf zivilrechtlichem Weg. Was kann man dadurch mehr an „Gerechtigkeit“ erlangen? Hat die Strafverfolgung der Prävention, dem Schutz, zu dienen, oder ist „gerechte Strafe“ schon Zweck in sich? Ist „Gerechtigkeit“ zukunfts- oder vergangenheits-gerichtet auszulegen?
Die Justizbehörden haben sich entschieden, als Leistung die Zahl der vor Gericht gebrachten Fälle zu nehmen, die zu einer Aburteilung geführt haben. Einleuchtend ist daran der pragmatische Aspekt: Es handelt sich um eine leicht feststellbare Zahl, mit deren Hilfe die verschiedenen Staatsanwaltschaften in einer ihrer Leistungen verglichen werden können. Aber in „ihrer Leistung“ im Singular? Ich zweifle. Ich sehe nicht, dass damit die Staatsanwaltschaften einen Anreiz erhalten, dem öffentlichen Interesse zu dienen. Ich bin überzeugt, dass bei dieser Entscheidung eine Besinnung darauf, was eigentlich das Interesse (der Öffentlichkeit) sei, nicht Pate gestanden hat.
Folge dieser speziellen Incentivisierung der Staatsanwaltschaften ist, dass diese in Selbstgenügsamkeit ihr Hamsterrad drehen, da sie sich auf die sogenannten „Brot- und Butter-Fälle“ konzentrieren; also auf Fälle, die schon so häufig abgeurteilt worden sind, dass die Prognose auf das Urteil beim (x+1)ten Fall sehr sicher ist, die Treffsicherheit bei aufgegriffenen Fällen ist fast 100-prozentig. Das ist bei komplizierteren, weil neuartigen Fällen genau gegenteilig – die sind zudem deutlich arbeitsintensiver. Also neigen Staatsanwaltschaften in solchen Fällen zu deren Niederschlagung, im besten Fall zum Deal, jedenfalls zur Abwicklung ohne Urteil. Damit bleibt die Chance zur Klärung unbestimmter Rechtsbegriffe, gegebenenfalls zur Rechtsfortbildung, durch Urteile ungenutzt; das aber widerspricht dem Schutzinteresse des Bürgers in diesem Staat.
Die Abschreckung wird durch das 1.436ste Urteil gegen einen Bankräuber oder Klein-Dealer von der Stange nicht erhöht, der Schutz des Bürgers wächst nicht proportional mit der Zahl der Verurteilungen. Bei durchgearbeiteten Urteilen in neuartigen Fällen hingegen, wenn entschieden würde, ab wann im Falle eines Unfalls durch staatliches oder wirtschaftliches Organisationsversagen mit der Strafverfolgung welches Vertreters der Organisation zu rechnen ist, wäre der Abschreckungseffekt, sprich der Anreiz zu erhöhter Vorsorge, offenkundig unübertreffbar hoch.
Ich sehe nicht, dass die Organisation der Staatsanwaltenschaften in Deutschland auf einem Stand ist, welcher Rechtsstaatsprinzipien und öffentlichem Interesse – sofern beides vernünftig ausgelegt – entspricht. Da klafft eine erhebliche Gerechtigkeitslücke. Die sollten wir schließen. „Wir“ heisst dabei: Mit Vorbereitung seitens der Wissenschaft, in diesem Fall der Rechtswisssenschaft. Die Wissenschaft vom Recht aber fokussiert bislang fast ausschließlich die Rechtstexte – das Rechtssystem lässt sie unerforscht. Die Rechtstatsachenforschung gehört zu den am stärksten vernachlässigten Forschungsgebieten. Dass Gerechtigkeit allein durch gerechte Urteile erreicht wird, wird niemand ernstlich behaupten wollen. In diesem Sinne gilt: Die Rechtswissenschaft ist an Gerechtigkeit nicht wirklich interessiert. Dass sich das ändert, wäre der erste Schritt.