Weshalb decken die EU-Staaten als Gemeinschaft das „cycle-beating“-Verhalten der Hersteller?

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Der sogenannten Abgas-Affäre habe ich bislang zwei Kolumnen gewidmet. Die erste, im November 2015, besagte: Daran ist nichts neu – dasselbe gab es schon gut zehn Jahre zuvor bei LKW. Das Problem gehöre somit für die Kraftfahrzeug-Hersteller zu ihrer Kultur. Die zweite Kolumne, im Mai 2016, besagte: Es geht um ein multiples Versagen, auch und insbesondere des deutschen Staates mit seiner Regulierung. Dieser Diagnose zugrunde lag der erste Bericht der von Verkehrsminister Dobrindt eingesetzten Kommission, die zu dem Ergebnis gekommen war, dass seit 2007 nicht zwischen legalen und illegalen Einstellungen der Abgasminderungseinrichtungen bei Diesel-PKW (nur bei diesen; bei LKW wird nicht hingeschaut) zu unterscheiden gewesen sei. Ein Vollzug der gesetzlichen Vorgaben aus Brüssel habe aus diesem Grund in Deutschland in den letzten acht Jahren nicht stattgefunden.

Der Staat ist somit seiner Rolle als Ordnungsmacht, die ihre Bürger schützt und geltendes Recht nach bestem Wissen und Gewissen vollzieht, gegenüber den Kfz-Herstellern nicht nachgekommen und hat so zugelassen, dass die in der europäischen Luftreinhaltegesetzgebung zunächst verabredeten und dann vorgegebenen mit der Zeit progressiven NOx-Minderungsziele von Deutschland nicht erfüllt werden. Das Fazit: Der Staat Deutschland ist rechtsbrüchig geworden, weil sein Verkehrsminister die europäischen Gesetze gegenüber den Kfz-Herstellern beziehungsweise -Importeuren nicht sinngemäß durchgesetzt hat – das aber war vom Umweltminister desselben Staates unterstellt worden, als auf seinen Rat hin Deutschland seine NOx-Minderungsziele im NEC-Rahmen versprach und rechtskräftig werden ließ.

Meine persönliche Konsequenz daraus: Volkswagen als gar alleinigen Bösewicht herauszustellen, wird dem vorliegenden Tatbestand nicht gerecht. In Europa ist Volkswagen ein Täter unter anderen Tätern – die sämtlich vom Staat Deutschland einen Freibrief erhalten hatten. Das Muster war das aus der Bankenkrise bekannte: Too big to prosecute. Der Schluss: Der Staat ist das Problem. Und da der Staat nicht im luftleeren Raum existiert, ist das Problem eigentlich das, dass dieses manifeste und weiterhin wirkende Staatsversagen von den tragenden Eliten, den beiden großen politischen Lagern und den Medien, gedeckt wird. Auch die beiden großen Kirchen machen den Mund nicht auf. Das typische Bild eines Eliten-Konsenses.

Uns bleibt nur eines: abwarten

Machen kann man dagegen von gleicher Ebene, von Deutschland aus, nur wenig – so lehrt uns die Erfahrung. Ein Staat droht zugrunde zu gehen, wenn seine Eliten an die zentralen Werte, die sie im Munde führen, selbst nicht mehr glauben, wenn ihr Verhalten dazu faktisch ausbeuterisch und mental zynisch ist. Retten kann Eliten mit einer solchen Tendenz zur Selbstzerstörung nur gleichsam ein Schlag mit dem Schwert mitten in sie hinein; das aber vermag nur ein Akteur mit Standort von außen. Die USA haben es bereits einmal getan, allerdings eher aus Versehen, weil Volkswagen die Stirn hatte, die in Europa als üblich eingespielten Verhaltensweisen in aller Unschuld in die USA zu exportieren.

Hoffnung setzen kann man allein noch auf die Ebene darüber, das ist die EU. Da hat es bereits einmal einen Beispielsfall gegeben, die BSE-Krise. Die fahrlässige Inkaufnahme einer erheblichen Gefährdung von Leib und Leben ihrer Staatsbürger hatte auch da eine Regierung, in diesem Fall eine EU-Kommission, nicht wahrzunehmen sich entschieden – und das hat dann zu einem Selbstreinigungsprozess auf EU-Ebene geführt, hat die Santer-Kommission aus dem Amt gejagt. Uns bleibt nur zu abwarten, was die Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments (EMIS) bringen wird. Sie ist das einzige potentielle Schwert, das in den (selbstzerstörerischen) Elitenkonsens noch niederzugehen vermag.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Tun kann man gegenwärtig nur eines: weiterhin Neugier zeigen und fragen, zum Beispiel ob die Diagnose im Eingangsabsatz wirklich korrekt ist. Ob es nicht vielleicht noch ärger ist als dort behauptet. Dazu nun gibt es Neues mitzuteilen. Ich weise hier hin auf eine erste Analyse aus der europäischen Vogelperspektive. Empirische Basis dessen ist, dass nicht nur Deutschlands Regierung einen Bericht mit Messungen von ausgewählten Diesel-Fahrzeugtypen hinsichtlich ihrer Konformität mit den Euro-6-Anforderungen vorgelegt hat. Inzwischen haben das auch die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens getan. Zusammengesehen ergibt sich ein doch erheblich anderes Bild als bislang in Deutschland medial verbreitet.

Das generelle Bild von der Täterschaft

Transport and Environment (T&E), die in Brüssel basierte Umwelt-NGO zum Thema Verkehr, hat die drei erwähnten nationalen Berichte ausgewertet. Der zweite Teil der Überschrift des T&E-Reports gibt einen Fingerzeig auf die Botschaft. Er lautet:

„and the national regulators failing to act“.

Die drei Phänomene, auf die es mir ankommt, sind sämtlich in der Tabelle gezeigt.

Die Tabelle stellt die 12 „schmutzigsten“ Diesel-PKW-Typen (mit Euro-6-Zulassung) in Europa in einer Art Ranking zusammen. Das Maß dafür ist in der rechten Spalte gezeigt.

(i) Im Hinblick auf PKW-Hersteller und -Modelle fällt auf, dass Volkswagen (mit Ausnahme von Porsche) nicht vertreten ist. Drei von zwölf Top-Emittenten sind asiatische Import-Modelle. Von den restlichen neun sind fünf von nicht im engeren Sinne „europäischen“ Herstellern (Ford; GM; Tata). Wirklichen Heimatschutz verdient haben eigentlich nur die Modelle von Renault, Porsche und BMW; also aus Deutschland und Frankreich.

(ii) Für die Voraussetzung für die Zulassung, für die Typprüfung, dieser zwölf Top-Emittenten zeichnen insgesamt fünf Mitgliedstaaten der EU verantwortlich. Davon haben drei, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, immerhin erste selbstkritische Berichte erstellen lassen. Ausstehen die Berichte der Niederlande und Luxemburgs. Ob die noch kommen werden? Ich habe bislang von keiner Initiative gehört, die diese Staaten zu einer solchen Handlung auch nur aufgefordert hätte.

(iii) Maßstab für die Aufnahme in die Liste der Top-Emittenten ist der Faktor in der rechten Spalte. Er gibt an, um das Wievielfache die Realemissionen die Typ-Genehmigungsemissionen (in NOx) übertreffen. Es beginnt oben mit dem Faktor 14,6 und endet unten mit dem Faktor 5,1. Dasselbe noch einmal für die Nicht-Mathematiker unter den Lesern: Es geht um Abweichungen von 500 bis 1460 Prozent! Es geht somit um Volumina, die man einfach nicht übersehen kann. Alle in angeblicher Unschuld behauptete Nicht-Wahrnehmung ist nur als schauspielerische Leistung zu würdigen. Dabei sollte doch die kritische Frage: Wie nur habt Ihr es geschafft, nicht-wahrzunehmen, was doch offensichtlich war und die Spatzen von den Dächern pfiffen? nach 1945 zum Grundbestand politischer Bildung schon von Schülern gehören. Ich persönlich empfinde diese Volte als schamlos.

Zentral ist noch ein überraschender Hinweis aus dem T&E-Bericht:

„there are models on the road today that achieve the air pollution standards in normal use conditions including the VW Golf (2.0 TDI, approved in Germany), Peugeot 208 (1.6 BlueHDi, approved in France) and BMW 320xd (approved in Ireland).“

Das heißt es geht, auch ohne Bruch der rechtlichen Vorgaben.

Die zwangsläufigen Resultate

Angesichts eines solchen Ausmaßes von Überschreitung werden die rechtskräftig zugesagten Emissionsreduktionen der europäischen Luftreinhaltepolitik (NEC-Richtlinie) nicht erfüllt – das liegt auf der Hand. Die EEA bestätigt das in ihren Berichten.

  1. a) im Hinblick auf die NOx-Ziele innerhalb der NECD stellt die Europäische Umweltagentur (EEA) fest

„The main reasons for the exceedances are emissions from road transport (NOx) and agriculture (NH3).“

„The aggregated NOx emission data for the 28 Member States of the EU were above the Annex II limit for the 2010 to 2012 period.“

Wenn auch für die EU als ganze gilt:

„In 2014, the EU-28 as a whole achieved all its Annex I and II emission ceilings.“ (vgl. auch dort Fig. 1).

  1. b) Für Deutschland alleine stellt die EEA fest:

„Since 2010, 10 Member States have persistently exceeded their respective emission ceilings for NOx (Austria, Belgium, France, Germany, Ireland and Luxembourg), …“

Das noch ungelöste Rätsel  

Im Raum steht die Frage: Weshalb decken die EU-Staaten als Gemeinschaft das „cycle-beating“-Verhalten der Hersteller (und Importeure)? Nur prinzipiell geht es um konfligierende Interessen, das ist Standortschutz einer Industrie vs. Gesundheit von Bevölkerung und Ökosystemen. Für die übergroße Mehrzahl der Mitgliedstaaten aber existiert kein Schutzbedürfnis einer Industrie, weil PKW für sie Importgut sind. Für sie gibt es keinen Grund, hinsichtlich der Schutzansprüche der Bevölkerung nachzulassen, es gibt für sie keinen Konflikt. Angesichts dessen ist das passive bis deckende Verhalten der Mehrheit der Mitgliedstaaten bislang nicht wirklich verständlich. Vielleicht verkennen sie bislang ihr Interesse; vielleicht besteht die Chance, dass sie nun aufwachen.

Anlass für eine Nagelprobe ist das Ansinnen, welches der deutsche Verkehrsminister in den EU-Verkehrsministerrat für dessen Sitzung am 7. Juni 2016 eingebracht hat. Das war, laut Protokoll der Sitzung:

„Ministers held a policy debate on the best ways to cut nitrogen oxide (NOx) emissions from diesel cars on the basis of current legislation. … the <German> delegation invited the Commission to review and clarify existing legislation on the use of defeat devices. A large number of ministers agreed that the existing rules on the use of defeat devices should be clarified. The circumstances in which manufacturers are allowed to use such devices should be defined in a precise manner to avoid any abuses.“

Widerstand hingegen kam von der Europäischen Kommission:

„Commissioner Bienkowska considered that better enforcement and stronger regulatory oversight by the national authorities would be more efficient than revising the legislation.“

Das heißt bislang noch ist lediglich eine kleine Minderheit der EU-Mitgliedstaaten der eigentlich selbstverständlichen Auffassung, dass bestehendes Recht auch dann durchgesetzt werden kann und soll, wenn die rechtliche Grundlage offene Rechtsbegriffe enthält – was ausnahmslos der Fall ist. Da die EU-Kommission das Initiativrecht zur Einbringung von Rechtsvorlagen hat, hat sie eine Veto-Position, kann den Wunsch der Deutschen blockieren.

Das Motiv der EU-Ebene ist dasselbe wie immer: Sie sieht, dass nur ein Hochziehen der Kontrollkompetenz nach Brüssel dem ein Ende zu setzen vermag, dass die Mitgliedstaaten weiterhin meinen ihre nationale Kfz-Industrie, unter Bruch geltendes Rechts, schützen zu sollen. Das Ansinnen der Deutschen, Klarheit hinsichtlich dessen, welches cycle beating erlaubt und welches illegal sei, durch genauere Regulierung auf EU-Ebene zu erhalten, bringt natürlich nur dann wirklich Klarheit, wenn auch die Mitgliedstaaten ihrerseits, Deutschland einbegriffen, endlich bereit sind, die auch dann noch verbleibenden (beziehungsweise neugeschaffenen) offenen Rechtsbegriffe ihrerseits selbständig sinngemäß zu interpretieren und entsprechend anzuwenden und durchzusetzen. Ohne diese Bereitschaft ist all ihr Drängen auf Änderung von EU-Recht nur ein weiteres Ausweichmanöver, welches Zeit für ihre Protegées schinden soll.

Diese Bereitschaft hat der deutsche Verkehrsminister bislang nicht erklärt. Man wird sehen, wie die deutsche Delegation mit der Positionierung der EU-Kommission umgehen wird. Schon jetzt ist klar: Offen Argumente für ihren Widerstand gegen die doch nach den Regeln des Rechtsstaates naheliegende Position der Kommission scheint sie nicht vorlegen zu wollen. Ihr Anliegen ist eben schambesetzt. Und, mir unverständlich: Der Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB), Jochen Flasbarth, hat sich nach Presseberichten hinter die Position des Verkehrsministers in Brüssel gestellt. Zu der ihn wirklich angehenden Frage aber, wie Deutschlands Rechtsbruch-Situation hinsichtlich seiner Verpflichtungen unter internationalen Luftreinhalteabkommen zu beenden sein soll, hat sich das BMUB bislang nicht geäußert. Schöne Umweltschützer sind mir das.

 

 

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>