Wie entscheiden bei der Bewältigung multipler Krisen?

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (März 2024)

Die uns gestellten Herausforderungen machen Angst. Würden wir sie nicht angstgesteuert sondern tapfer angehen, also mit voll aufblendendem Bewusstsein, so müssten wir zunächst innehalten und abwägen, was wir priorisieren wollen. Denn alle Arten von Herausforderungen full speed verfolgen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt.

Trade-off von Krisenherausforderungen – wir können nicht alles, was wir müssen

Wir haben die Kriege. Und wir haben die Umweltkrise, die Krise im Naturbezug des Menschen, symbolisiert durch die Klimakrise. Das sind wesentliche manifeste Krisen. Überdies haben wir mehrere latente Krisen. Die werden gelegentlich ebenfalls manifest, sie sind es nur gerade nicht. Dessen ungeachtet muss auch gegen die, die im Potentialis sind, vorgesorgt werden.

Die Kriege auszufechten und all die Krisen zu lösen, für das zusammen fehlen uns die Ressourcen, sowohl an öffentlicher Aufmerksamkeit und Management-Kapazität der Politik als auch an finanziellen Mitteln. Insbesondere fehlt es uns dafür an wissenschaftlich-technischen Ressourcen, denn die zukünftige Welt ist eine wissenschaftlich-technisch gemachte Welt. Dafür sind eine globale wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Wiederherstellung einer internationalen Vertrauensbasis unerlässlich, die wir mit den Kriegen gerade dramatisch abbauen. Wie mit diesem Mangel, dieser Knappheit, umgehen?

Die uns gestellten Herausforderungen machen Angst. Würden wir sie nicht angstgesteuert angehen sondern tapfer, das ist mit voll aufblendendem Bewusstsein, so müssten wir zunächst innehalten und abwägen, was wir priorisieren wollen. Denn es gilt: Beide Arten von Herausforderungen full speed verfolgen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt.

Ein solches Abwägen, rein konzeptionell erst einmal, sehe ich aber nirgends auch nur im Ansatz. Ich nehme vielmehr wahr, dass zu beiden Kompartimenten, zu Kriegen und Klima, jeweils gesondert argumentiert wird, unter Beiziehung von Fachleuten zum jeweiligen Kompartiment. Zu vernehmen sind dann Forderungen gemäß den üblichen Formeln: „wir müssen …, es kann doch nicht sein, dass …“. Die Frage nach der Realisierbarkeit des Geforderten zusammengenommen wird nicht gestellt. Je individuell, pro Kompartiment, mag das Geforderte auch gerade noch leistbar sein. Zusammen jedoch geht es um Volumina an Kapazitäten von Politik und Wissenschaft sowie an Finanzen, die unmöglich zur Verfügung stehen. Das blenden wir aus, durch das Design der Thematisierung.

Wir verweigern die Wahrnehmung des Kerns der Herausforderung, welches für multiple Krisen spezifisch ist.

Das Motiv der Abwägungs-Verweigerung

Für die Ablehnung der Perspektive des Abwägens der Herausforderungen Kriege versus Klima (Pandemien, Finanzcrash etc.) gibt es ein Motiv. Das liegt auf der Hand. Es gilt nämlich:

  1. Die Kriege zu beenden vielleicht nicht, aber ihr Monstertum weitgehend ausbluten zu lassen, weil wir sie nicht länger mit Ressourcen unterstützen, das liegt in unserer Hand.
  2. Der Klimawandel hingegen ist auf analoger Weise, dass wir unser ressourcenreiches Engagement in der Klimapolitik weitgehend einstellen, nicht zu bändigen. Das führte nur zum Gegenteil, zum Füttern des Monsters.

Damit ist klar, wohin die begrenzten Ressourcen prioritär zu lenken sind: Wir können uns die Kriege, diese archaische Form des Konfliktaustrags, nicht länger leisten. Das bedeutet: Sofern man in eine Abwägungs-Perspektive ginge, wäre das Ergebnis klar. Dazu muss man nicht groß kalkulieren.

Eben deshalb, weil das so offensichtlich ist, so meine Vermutung, scheut ein jeder, in diese Abwägungs-Perspektive zu gehen. Die Dämonisierung des Gegners im Krieg hat eine Funktion. Sie erlaubt uns, sagen zu können: „Wir sind Opfer, wir können nicht anders – also müssen wir unbedingt ….“ Wir stilisieren uns als optionslos und damit als machtlos. Wir wollen uns erlauben, unserer Verantwortung nicht gerecht zu werden. Wir flüchten.

Studien zum Umgang mit multiplen Krisen

Es gibt selbstverständlich Untersuchungen, die den Umgang mit multiplen Krisen zum Thema machen, ihn analysieren. Doch die belegen eher die Diagnose: „Wir flüchten“.

Ein beredtes Beispiel ist eine Untersuchung des European Policy Centers (EPC) in Brüssel. Ihr Titel: „The Green Deal in times of polycrisis. Entstanden ist sie im Rahmen des Projekts “Managing the crises of today and tomorrow”. Das heißt die Aufgabe des reflektierten Umgangs mit multiplen Krisen ist schon im Bewusstsein der politikvorbereitenden Institutionen in Brüssel angekommen.

Konkret handelt es sich um eine vor allem rückblickende Untersuchung – aber Empirie tut immer gut. Sie blickt allerdings lediglich nur darauf, wie andere Krisen auf EU-Ebene mit dem dortigen Ansatz der Lösung der Klimaherausforderung interferiert haben. Die wird in den Mittelpunkt gestellt. Die Kriege mit ihrer Verfeindung, der Unterbrechung etablierter Kooperationsformen wird ausgeblendet.

Für den Umgang mit der Klimaherausforderung steht pars pro toto „Green Deal“, gemeint ist aber dieser Politikzug seit Mitte der 2000er Jahre. Als Krisen in den Blick genommen wurden, in getrennten Fallstudien zunächst,

  1. ab 2007/08 die sogenannte “globale” Finanzkrise mit der anschließenden langanhaltenden Staatsschuldenkrise in Europa.
  2. ab 2019: Die Pandemie COVID-19.
  3. ab 2021/22: Die europäische Energiekrise.
  4. ab 2022: Die Krise, in Europa und weltweit, in der Versorgung mit Nahrungs- und Düngemitteln.

Ergebnis ist: Es ist möglich, diese Nebenkrisen so zu managen, dass sie jeweils einen synergetischen Effekt zur Lösung der Hauptkrise einzubringen vermögen. Randbedingung, unter der dieses empirische Ergebnis abgeleitet wird, ist allerdings, dass mehr an Finanzen verfügbar gemacht werden kann – was paradigmatisch mit der Kreditaufnahme NextGenerationEU im COVID-19-Kontext geschehen ist.

Damit wird auf eine der zentralen überwölbenden Knappheiten im Kampf gegen multiple Krisen, die Finanzen, immerhin hingewiesen. Es wird aber lediglich unterstellt, dass diese Ressource nicht wirklich knapp ist. Damit wird ausgewichen vor der gegebenen Herausforderung.

Abtasten der Größenordnung: Kosten bisheriger Krisen

Zwei Wirtschaftsforschungsinstitute haben die „Kosten“ des Ukraine-Krieges, inklusive der Sanktions- und Embargo-Kriegsführung, für die deutsche Volkswirtschaft abgeschätzt. Ob mit dem verwendeten makroökonomischen Kostenbegriff aber wirklich die Knappheit an Staatsfinanzen, die der Politik zur Verfügung steht, getroffen ist, ist bereits fraglich. Marcel Fatzscher (DIW) spricht in der „Rheinischen Post“ von deutlich mehr als 200 Milliarden Euro in zwei Jahren.

Vor allem die hohen Energiekosten haben das Wachstum in Deutschland im Jahr 2022 um 2,5 Prozentpunkte oder 100 Milliarden Euro und im Jahr 2023 bis heute um eine ähnliche Größenordnung nochmals reduziert“.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) geht in einer detaillierteren Untersuchung von 240 Milliarden Euro aus. IW-Experte Michael Grömling:

Während die Ausfälle im Jahr 2022 bei rund 100 Milliarden Euro liegen, stiegen sie im Jahr 2023 auf gut 140 Milliarden Euro an“.

Das entspricht Einbußen beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 3 Prozent (2022) und gut 4 Prozent (2023). Die direkten Leistungen an die Ukraine und an ukrainische Bürger in Deutschland scheinen da nicht einmal eingerechnet zu sein.

Der Anstieg sei neben den weiter zurückgefahrenen Konsumausgaben vor allem mit den erheblich höheren Produktionskosten aufseiten der Unternehmen zu begründen – und den damit einhergehenden Wettbewerbsverlusten. Allerdings seien in diesen Zahlen auch Spät-Folgen der Coronapandemie in den Jahren 2022 und 2023 enthalten. Im vierten Quartal 2023 sei außerdem der Gaza-Krieg hinzugekommen.

Über vier Jahre gerechnet, zwischen 2020 und 2023, sei durch die Sequenz von Krisen, Corona und Ukraine-Krieg, in Summe 545 Milliarden Euro entfallen. Zum Vergleich:

  1. Die Krise nach dem Platzen der Internetblase zu Anfang der 2000er Jahre sorgte innerhalb von vier Jahren für Ausfälle in Höhe von 255 Milliarden Euro.
  2. In Folge der globalen Finanzmarktkrise ab dem Jahre 2008 seien ebenfalls über einen Zeitraum von vier Jahren 445 Milliarden Euro entgangen.

Vergleicht man diese vier Ausfälle mit der gesamten Wertschöpfung, die sich im Laufe der Jahre natürlich erhöht hat, steht die aktuelle Krise aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht an der Spitze. Sie wird von der Finanzkrise von 2008/2009 übertroffen, in der 4,5 Prozent der Wertschöpfung verloren gingen. Bei Corona und Ukraine waren es insgesamt lediglich vier Prozent. Allerdings ist ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine noch nicht erreicht, ein Gutteil der Rechnung steht noch aus, ist auch erst zu erwarten aufgrund der Wirren nach Beendigung der Kampfhandlungen.

Die Kriegsschäden für die Ukraine wurden von der Weltbank zuletzt auf rund 500 Milliarden Euro geschätzt. Darin enthalten sind direkte Kriegszerstörungen in Höhe von etwa 150 Milliarden Euro sowie Verluste aufgrund der verringerten Wachstumsperspektiven der Wirtschaft.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>