Wie ist es zu dem Krieg in der Ukraine gekommen? Die Antwort von Harald Müller (HSFK) aus 2015
Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Man fragt sich allenthalben, wie es zu dem Drama in der Ukraine gekommen ist. Besonders aufschlussreich empfinde ich Einschätzungen von Experten, die die letzten 30 Jahre aufgrund ihres beruflichen Auftrags die Stufen des sich entfaltenden Dramas qua Amt präzise zu studieren hatten, die folglich die Essenz der Fehlentwicklung vor Augen haben, auch in allen Details. Deren Abstraktionen sind nicht Formeln, sie sind vielmehr gefüllte Abstrakta.
Zu diesem Kreis von Personen gehört Harald Müller, bis 2016 Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt. Es gibt von ihm zwei Texte, die er direkt nach der Krise in 2014 verfasst hat. Beide sind im thematischen Schwerpunkt jeweils anders ausgerichtet. Man käme deshalb nicht darauf, in ihnen die Antwort auf die Titelfrage zu suchen. Doch nimmt man beide Elemente zusammen, die zudem aufeinander bezogen sind, kommt eine stimmige Antwort heraus. Diese Antwort stammt bereits aus dem Jahre 2015, bedurfte nicht der aktuellen ultimativen Zuspitzung – das macht Müllers Analyse für mich in besonderem Maße überzeugend. Sehr handfest und anschaulich ist sie zudem.
Der Titel des unbedingt lesenswerten ersten Aufsatzes lautet: „Die unterschätzten Stärken deutscher Diplomatie und die Tücken der Selbst-Illusionierung.“ Es kommt mir auf den von Müller wenn nicht entdeckten so doch herausgestellten Mechanismus der „Selbst-Illusionierung“ an. Dass Müller diesen tückenhaften Mechanismus auf die Politikkultur des Auswärtigen Amtes (AA) bezieht, blende ich hier aus. Ich meine „Deutschland“ als pars pro toto für „den Westen“. Die These dieses ersten Aufsatzes lautet, gemäß Zusammenfassung:
„Die deutsche Diplomatie ist im Großen und Ganzen gut aufgestellt. Ironischerweise liegt in ihrer Stärke – einem verankerten Weltbild und Zielsystem mit kohärenter Strategie – jedoch auch die Wurzel für ihre Schwächen und Fehler. Die suggestive Kraft dieses kognitiv-normativen Komplexes kann unter Umständen zur Selbst-Illusionierung verleiten. Wenn Akteure, Strukturen und Prozesse in den deutschen Horizont treten, deren eigene Zielsetzungen, Motivationen, Strategien und Handlungsmaximen aus dem deutschen Weltbild herausfallen, kann deutsche Diplomatie fehllaufen und scheitern.“
Ich ergänze: Wenn schon die Eliten im AA und der sicherheitspolitischen Community dieses Problem haben, wieviel mehr gilt dies für das Gespann von Medien und allgemeiner Öffentlichkeit. Müller illustriert diese suggestiveKraft anhand von drei Beispielen – um am Ende die Struktur hervorzuheben.
Erstes Beispiel: Konflikt um die Einheit des Bundesstaates Jugoslawien
Müller erinnert daran, dass Deutschland 1991, also gleich nach Ende des Kalten Kriegs und dem Zerfall der Sowjetunion, mit großem Nachdruck die Anerkennung der nach Unabhängigkeit strebenden früheren jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien betrieb, also Sezession unterstützte. Das führte zu einer ernsten Krise in der EU, da man dort erheblich befremdet war über die vorausgaloppierende Anerkennungspolitik Bonns. Das deutsche Konzept dahinter war bezeichnend: Man strebte eine Internationalisierung eines Gewaltkonflikts an, der zunächst als Sezessions- und Bürgerkrieg begonnen hatte, durch die Durchsetzung eines völkerrechtlichen Prinzips, nämlich das der Unverletzlichkeit anerkannter territorialer Grenzen.Im Hintergrund stand die Hoffnung, das Konfliktgeschehen damit dem in der KSZE und den Vereinten Nationen gewachsenen Bearbeitungsinstrumentarium zuführen zu können. Also ein durchaus kalkuliertes Konzept wurde da verfolgt. Müller weiter:
„Das ignorierte aber, dass zahlreiche Akteure auf dem Balkan „anders tickten“ und gar nicht daran dachten, sich der deutschen Präferenz für rechtsgestützte und institutionalisierte Konfliktlösungswege anzubequemen. Milosevic, die serbischen Milizen, aber auch die führenden kroatischen Kräfte unter Tudjman dachten in Kategorien absoluter Feindschaft, territorialer Expansion und personalisierter Herrschaft. Die deutsche Idee lief damit nicht nur fehl, sondern das Versäumnis, die Folgen dieser Art von ethnisch aufgeladener Geopolitik für Bosnien abzuschätzen, weil man die Lösung des Problems ja schon in Sicht glaubte, öffnete die Pandora-Büchse des Bürgerkriegs mit ethnischen Grenzen in der fragmentiertesten der jugoslawischen Ex-Republiken, ohne dass Deutschland für das ausbrechende Inferno mit seinen Rezepturen Chancen hatte.“
Das ist die Selbst-Illusionierung.
Zweites Beispiel: NATO-Erweiterung
Die NATO-Ost-Erweiterung sei ähnlich verlaufen, wobei das Auswärtige Amt nicht initiativ war. Die Initiative lag vielmehr beim Verteidigungsministerium mit den beiden entscheidenden Akteuren Minister Volker Rühe und sein Planungsstabschef Ulrich Weiser. In deren Denken habe sich handfestes geostrategisches Denken („die deutsche Außengrenze soll nicht mit der europäischen Stabilitätsgrenze identisch sein, im geopolitischen vulgo: wir wünschen eine Pufferzone“) gemischt mit dem typisch deutschen Institutionalismus.
Doch das institutionalistische Element wurde dann vom Auswärtigen Amt verstärkt. Das legte nämlich größten Wert darauf, Russland durch symbolische institutionelle Politik einzubinden. Zeil sei gewesen, die harsche Konsequenz der Erweiterung – „ihr seid draußen, die andern können theoretisch alle rein“ – abzufedern. Diese Weichenstellung musste in Russland eine doppelte Tiefenwirkung auslösen, die die deutsche Diplomatie zwar nicht ignorierte aber deutlich unterschätzte:
- „Entgegen zuvor gegebenen Versprechungen dehnte ein Bündnis, dem Russland nicht beitreten konnte/sollte/durfte/wollte und das viele in der russischen Elite (und nicht nur sture Autokraten) als gegen Russland gerichtet wahrnahmen, seinen Machtbereich aus und schob sich gegen die russischen Grenzen vor. Wie der damalige russische Außenminister Kosyrev warnte …, musste das die Gewichte in Russland zugunsten derjenigen Kräfte verschieben, die schon immer davor gewarnt hatten, dem Westen zu trauen und sich auf eine zu weitgehende Kooperation mit ihm einzulassen.
- Darüber hinaus musste die Stärkung der NATO – soweit sie Linie des Westens blieb – das geopolitische Denken und die Konfrontationsbereitschaft seitens dieser Kräfte immer weiter steigern.“
Müller nimmt den bipolaren, den partnerschaftlichen Aspekt ernst, er zeigt, dass in allem Kalkül auch die Rückwirkung auf die inländischen Machtverhältnisse des Partners in einer klugen Außenpolitik eine Rolle zu spielen hat. Man schafft sich durch Außenpolitik den Nachbarn, mit dem man es am Ende zu tun hat. Der Mechanismus der Selbstillusionierung hier:
„Die deutsche Diplomatie verfing sich wiederum in der Illusion, das Problem mit institutionellen Placebos befrieden zu können, und verkannte damit die geopolitische Grundlage der russischen Sorgen. Die NATO-Russland-Akte von 1997 und der NATO-Russland-Rat (ebenso wie dessen gleichfalls symbolische Bedeutungssteigerung 2002) blieben gegenüber diesen Bedenken wirkungslos, weil sie Russland zwar ein Rederecht, aber keinerlei Entscheidungsrechte einräumten. In der Folge tat die NATO (insbesondere ihre Führungsmacht), was sie wollte, und Russland musste diese Handlungen ohne Chance zu wirksamem Einfluss dulden.“
Die Probe aufs Exempel sei die NATO-Operation im Kosovo gewesen – ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates und gegen die Regeln der OSZE. Also gegen die Beteurung, man halte sich an die Regeln. Die deutsche Diplomatie unternahm immerhin eine ernsthafte Anstrengung zur Einbindung Russlands. Sie brachte den Vorgag vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, also eine Beteiligung Russlands. Resolution 1244 (1999) enthielt Bedingungen einer Waffenstillstands- und anschließenden Übergangsregelungen. Freilich entpuppte sich das später gleichfalls als Placebo, eine vitale Forderung Moskaus wurde so übergangen:
„Während in Sicherheitsratsresolution 1244 von der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien und für Kosovo nur von weitreichender Selbstverwaltungsautonomie im Rahmen der Bundesrepublik Jugoslawien die Rede war, ging der Westen später zur Anerkennungspolitik über, die EU machte die Anerkennung der Selbständigkeit Kosovos sogar zu einer Beitrittsbedingung Serbiens zur Europäischen Union – all das ohne eine neue Resolution des Sicherheitsrats und somit ohne Einwirkungsmöglichkeit Russlands.“
Und das sei kein Einzelfall. Müller verweist auf die minuziöse Kurzstudie des „jeglicher Putinophilie unverdächtigen Wolfgang Richter (SWP) für die gesamte Entwicklung der westlich-russischen Beziehungen seit 1990. Ergebnis sind, in Abhängigkeit von der Zählweise, bis zu 12 Episoden, in denen die NATO – oder die USA alleine – deutlich artikulierte vitale Interessen Russlands ignoriert, verletzt oder institutionelle Vorkehrungen zu ihrem Schutz umgangen hätten.
Drittes Beispiel: Afghanistan
Für die deutsche Afghanistan-Politik gilt Analoges, auch sie wurde von der „Selbst-Illusionierung“ beherrscht. Besonders deutlich wurde das mit der
„verfassungsgebenden“ Petersberg-Konferenz, in der einem Land, dessen hervorstechendes historisches Charakteristikum es war, dass es als politische Einheit nur zur Abwehr externer Eroberung (durch Nichtmoslems) zusammenstand und ansonsten als lose Konföderation statt als Nationalstaat erschien. In die Verfassung wurden die wesentlichen Kernbestandteile westlicher politischer Ideen hinein verhandelt, die von der Mehrheit der beteiligten Afghanen nolens volens akzeptiert wurden, weil man sich der eigenen Hilfsbedürftigkeit nur zu bewusst war. Die wenigen genuin afghanischen Elemente (Versatzstücke der Scharia) stießen in der deutschen Öffentlichkeit prompt auf Indignation, ebenso die relative Stärke der Gouverneure (welche die traditionelle Dezentralisierung politischer Macht ebenso reflektierten wie deren augenblicklichen Stand).“
Hier wird deutlich, dass die „Selbst-Illusionierung“ nicht nur ein ministeriales Problem ist sondern die medial repräsentierte deutsche Öffentlichkeit umfasst. Also geht es um ein Charakteristikum deutscher Demokratie, das der wertbetonten aber kenntnisarmen Nabelschau-Debatten.
Der gemeinsame Nenner „Selbst-Illusionierung“
Müller sieht zwei Syndrome, die derselben Wurzel – der an sich positiv zu bewertenden Grundeinstellung – entwachsen:
- „die Neigung, den Gegenüber als kooperationsfähigen Partner in spe einzuschätzen und dabei zu verkennen, dass er anders tickt (wie Russland bzw. Putin in zunehmendem Maße).“
- „eine durchaus realistische Einschätzung des Partners (oder der Partner), aber ein Verkennen der Umstände, die die Wirksamkeit der präferierten Instrumente vermindern oder scheitern lassen (wie in Afghanistan oder Jugoslawien).“
Es handle sich hier nicht um triviale politische Naivität, sondern um einen sozialpsychologischen Mechanismus, um die Neigung zu „kognitiver Konsonanz“, das heißt eingehende Information an die vorhandenen Einstellungen zu assimilieren, auf emotionaler Ebene den „motivationalen Bias“, das heißt eingehende Information dahingehend umzuformen, dass sie den eigenen, emotional besetzten Präferenzen entspricht.
Der Gegner “ist” nicht von sich aus böse, er wurde von uns (mit-)gemacht
Für Müller ist heute klar: Die jetzige Situation ist analog zu prä-München 1938. Putin habe als „Modell“
„die Liquidierung der Tschechoslowakei durch Nazideutschland im Jahre 1938“ genommen. „Putin … hat Hitlers Blueprint nahezu minutiös kopiert. Er ist sein Wiedergänger. Freilich ist er Hitlers völkermörderischer Raserei noch nicht gefolgt.“
Mit dem Zitat von Außenminister Kosyrev hat Müller die dynamische Perspektive bereits angedeutet: Was heute ist, war nicht immer so, war nicht determiniert, hätte auch anders kommen können. Wir stehen eben mit unseren Partnern/Gegnern in einer Wechselwirkung – das gehört zum Wesen einer Beziehung. Müller hat dies im komplementären Aufsatz aus dem Jahre 2015 mit dem Titel „Konturen einer neuen europäischen Friedensordnung“ nebenläufig ausgearbeitet.
Der Gedanke ist nicht neu, er gehört zum Standard-Repertoire professionellen sicherheitspolitischen Denkens. Auch US-Botschafter Jack F. Matlock hat diesen Gedanken formuliert, er warnte 1996 vor der „Unterhöhlung jeder Chance auf eine Entwicklung in Richtung Demokratie in Russland“. Gesagt hat er ihn bei der Geburtsstunde jener Entwicklung, die in Bukarest 2008 kulminierte und dann 2014 und jetzt 2022 zeitigte: bei der Anhörung zum Clintonschen Schwenk pro Aufnahme der Ukraine in die NATO am Ende seiner ersten Amtszeit. Clinton tat das, den Bruch des Russland Versprochenen, aus wahltaktischen Gründen: Er wollte wiedergewählt werden und brauchte dazu die Mehrheit in den Swing States Pennsylvania, Michigan, Illinois mit ihrer starken Community mit osteuropäischen Wurzeln.
So geht die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik in einem Mehrheits-Wahlsystem wie dem in den USA. Dass das alles selbst in den außenpolitischen Eliten der Vergessenheit anheim gefallen ist, bestätigt die Müllersche Diagnose der „Selbst-Illusionierung“.