Zivilflüge über Kampfgebiete einstellen

 

Der Dutch Safety Board zum Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Der Bericht des Dutch Safety Board (DSB) zum Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine ist erschienen. Das erste, was man feststellen muss, ist: Die fachliche Kultur der technischen Community, solche Berichte im Nachhinein, nach fürchterlichen Katastrophen, zu schreiben, ist hier wieder einmal beeindruckend vorgelebt worden. Wenn wir zum Ukraine-Konflikt und seinen Ursachen über einen ähnlichen Bericht verfügten, wären wir mit der Beruhigung dieses Konflikts viel weiter, der schon mehr als 6.000 Todesopfer allein durch Kampfhandlungen gefordert hat. Doch leider ist die politische Fach-Community noch lange nicht so weit wie die technische.

Dessen ungeachtet gilt: Eine verständige Lektüre des MH17-Berichts ist eine Herausforderung besonderer Art. Meine Lektüre hat mich erinnert an Freuds leider ungeschriebene Schrift zur Psychopathologie der Suche nach Ursachen.

Das Mandat für einen solchen Bericht, gegeben von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO, sagt eindeutig: Es hat um die Feststellung „der“ Ursache zur Verhinderung weiterer Unfälle (wegen Weiterwirken derselben Ursache) zu gehen. Punktum. Der Bericht ist zweigeteilt:

  • Teil A steht unter dem Titel: „Ursachen des Absturzes“, also „Ursache“ im Plural;
  • Teil B trägt die Überschrift „Flying over conflict zones“. Übersetzt in den Auftrag, nach (abstellbaren) Ursachen zu suchen, müsste die Überschrift etwa lauten „Die Ursache ‚Zulassen des Überfliegens einer Kampfzone durch die zivile Luftfahrt’“.

Inkonsistenzen also ausgerechnet beim Schlüsselbegriff „Ursache“! Wer auf Motivsuche geht, dem mag die fehlende Schrift von Sigmund Freud in den Sinn kommen.

Um Ordnung in das begriffliche Chaos in der Gliederung zu bringen, ist an Selbstverständliches zu erinnern: Wer nach Ursachen oder gar einer Ursache im Singular sucht, muss nicht nur suchen, sondern zugleich über das Wesen des Gesuchten, „der“ Ursache im Singular, reflektieren. Sonst landet er im unendlichen Regress. Mindestens gilt nämlich: Zu jeder Ursache gibt es wiederum eine Ursache, und so fort. Wer in dieser Kette von Ursachen nach der prima causa zu suchen antritt, landet, so belehrt uns die mittelalterliche Theologie, bei Gott – aber das ist nicht das, wonach die ICAO fragt. Und überdies fragt sich ein unbefangener Leser: Was ist das Verhältnis der Ursachen in Teil B zu der/denen in Teil A?

Des begrifflichen Chaos Auflösung, das Kriterium, wie man unter vielen mitwirkenden Ursachen oder aber innerhalb einer Kette von Ursachen zu „der“ (hier gesuchten) Ursache gelangen kann, ergibt sich aus dem Zweck der Fragestellung. Macht man sich klar, dass es um abzustellende Ursachen geht, dann ist selbstverständlich, dass nur Teil B zu den hier zu suchenden Ursachen führt. Zu erkennen ist das auch an den Empfehlungen, die der Bericht gibt: Der kommt nur zu Empfehlungen, die sich aus Teil B des Berichts herleiten.

Dessen ungeachtet ist die Frage danach, was das Zivilflugzeug physisch zum Absturz brachte, negativ legitim – es hätte ja ein technisches Versagen sein können. Das wird in Teil A geklärt: Es war eine Boden-Luft-Rakete. Präzise und abschließend. Und Russland stimmt zu, dass absturzauslösend die Detonation eines Sprengkopfs war.

Abschuss durch eine Buk-Rakete als Ursache im Teil A

Der nach meinem Urteil entscheidende Satz dort, in Teil A, lautet:

the aeroplane was struck by a 9N314M warhead as carried on a 9M38-series missile and launched by a Buk surface-to-air missile system.“ (im Hauptbericht, Findings to Chap. 3.7, S. 137)

Das heißt es war eine Buk-Lafette, von der aus die bezeichnete Rakete abgeschossen wurde.

Die Zustimmung Russlands zur Diagnose der Detonation eines Sprengkopfs ist implizit gegeben – im Berichtsteil „MH17 about the investigation“, Appendix L, S. 94 – 98. Die Sitte, dass alle beteiligten Parteien den Entwurf des Berichts zugestellt erhalten und dazu Stellung nehmen können, trägt hier Früchte. Zudem gilt: Das Transparenz-Prinzip, dass eine allfällige Divergenz, der daraus folgende Dialog, im Anhang des Berichts mit publiziert ist, erlaubt, dass sich die interessierte Öffentlichkeit selbst ein Urteil über die Validität der Argumente bilden kann, die im Fall strittig gestellter Textpassagen ausgetauscht wurden. Ein solcher Bericht ist Ausdruck einer Hochkultur; und einen solchen Bericht verständig lesen zu können, insbesondere aus dem in ihm Vorenthaltenen Schlüsse ziehen zu können, ist Ausdruck einer noch höheren Kultur – in den tagesaktuellen Medienberichten zu dem Abschluss-Report ist solches verständlicherweise nicht zu finden.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Dann hat der DSB aber auch noch hinter die Ursache, dass es eine Waffe ‑ von einer Rakete getragen ‑ war, die den Absturz herbeigeführt, zurückgefragt. Er hat in Auftrag gegeben, dass aus der Dynamik der Explosion des Sprengkopfs mit seiner Eigengeschwindigkeit zurückgerechnet wird auf die Bahn der ihn tragenden Rakete und damit auf die ‚launch area’ der Buk-Rakete geschlossen wird. Der Abschlussbericht zeigt eine so bestimmte Fläche in der Ostukraine – und das war höchst strittig zwischen dem DSB und Russland. Zu allem (unprofessionellen) Überfluss hat der Vorsitzende des DSB auch noch am Tage der Vorstellung des Abschlussberichts in einem Interview mit einem niederländischen TV-Sender gesagt, dass diese launch area unter Kontrolle der Rebellen gewesen sei. Man erkennt daran,

(a) welches Ausmaß von Emotionen im Spiel ist; aber nicht nur dass; denn
(b) sind die Untersuchungsführer auch im Besitz vertraulicher Informationen, die aus der Radarüberwachung stammen, die aber alle Seiten nicht freigegeben haben.

Insofern weiß ein Mann wie der Vorsitzende T.H.J. Joustra mehr als er sagen kann und im Bericht steht. Ich persönlich sehe keine Legitimität, die Frage nach der launch area unter dem ICAO-Mandat überhaupt zu stellen. Die Klärung dessen, wer den Finger am Drücker hatte und aus welchen Beständen die Buk-Lafette stammt, vermag zur Sicherheit der Luftfahrt in Zukunft offenkundig nichts beizutragen. Dass der DSB diese Frage dessen ungeachtet ins Untersuchungsdesign aufnahm, brachte Russland in Zugzwang, sich zu dieser Frage zu äußern. Und diese Äußerungen sind erhellend für die Frage nach der Täterschaft. Auch so geht Politik.

Der Grund „Zulassung des Zivil-Flugs über die Konflikt-Zone“

Die Auslassungen des DSB in diesem Teil sind nach meinem Urteil äußerst couragiert. Die Formulierung, dass der jetzige Zustand eine ‚conflict of interest’-Situation sei, wird zwar nicht verwendet. Aber nahe kommt dem die folgende Formulierung

There is a lack of effective incentives to encourage sovereign states faced with armed conflicts to assume their responsibility for the safety of the airspace.“ (Hauptbericht, S. 262)

Es wird im Bericht sämtlichen beteiligten Akteuren und Institutionen Versagen in der Risiko-Einschätzung hinsichtlich des Überfliegens einer Zone mit einem bewaffneten Konflikt attestiert. Das richtet sich an alle: von der Flugaufsicht der Ukraine über Malaysian Airlines bis zu den multilateralen Überwachungsinstitutionen wie EUROCONTROL, EASA und ICAO. Den Autoren ist bewusst, dass eine Neuordnung der Zuständigkeiten für das Schließen eines Luftraums die Souveränität eines Nationalstaates einschränkt.

Gleichsam zum Ausgleich schont der Bericht keine der beteiligten Institutionen – es soll den übrigen Beteiligten neben der Flugaufsicht der Ukraine anscheinend die Ausflucht genommen werden, sich zu salvieren, indem sie auf das Versagen der Ukraine verweisen. Und die Ukraine wird hart herangenommen. Das Ausmaß von Härte wird wieder indirekt erkennbar, über einen Einwand, den das Außenministerium der Niederlande gegen eine entsprechende Passage im Berichtsentwurf vorbrachte. Da bat es um die Streichung eines Satzes, weil der Haftungsimplikationen für die Ukraine haben könnte (Anhang W, S. 6) – das DSB lehnte das ab.

Zum Abschluss sei nochmal ins Detail gegangen – wobei ich im Folgenden auf der Darstellung von Gunnar Jeschke basiere, die ich insgesamt empfehlen kann, weil er mit seinem militärischen Hintergrund die Voraussetzungen mitbringt, einen solchen Untersuchungsbericht inklusive dem Ungesagten angemessen zu „lesen“. An dem von mir Herausgegriffenen ist so gut zu demonstrieren, was ein transparent erarbeiteter Bericht an überraschenden Erkenntnissen aber auch an Schwierigkeiten für die Akteure bringen kann. Es geht um den Hintergrund der Auffassung des DSB, dass die Ukraine nach der Bekanntgabe von Abschüssen zweier Kampfflugzeuge in 6.200 bis 8.500 Metern Höhe versäumt hätte, ihren Luftraum für Zivilflugzeuge zu sperren.

Am 14. Juli 2014 gab der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine, der die „Anti-Terror-Operation“ (ATO) im Osten leitet, bekannt, am selben Tage sei eines ihrer Transportflugzeuge in 6.500 Metern Höhe mit einem leistungsfähigen Luftabwehrsystem abgeschossen worden. Als wahrscheinliche eingesetzte Waffensysteme wurden ein in Russland befindliches System Pantsir (20 km Reichweite, 15 km Gipfelhöhe) oder eine Luft-Luft-Rakete X-24 angegeben. Gegenüber ausländischen Diplomaten sprach Außenminister Klimkin von einer Flughöhe von 6.200 Metern. Beide Systeme können auch die Flughöhen von zivilen Verkehrsmaschinen (um 10.000 Meter) erreichen.

Am 17. Juli 2014 gab das ukrainische Verteidigungsministerium bekannt, dass am Tage zuvor eine Su-25 Erdkampfmaschine vermutlich mit einer Luft-Luft-Rakete durch ein Flugzeug der russischen Luftwaffe abgeschossen worden sei. Als Abschusshöhe wurden einen Tag später 8.250 Meter genannt, auf spätere Nachfragen des DSB 6.250 Meter.

Alle betroffenen Seiten haben eine Streichung oder starke Änderung dieser Passagen verlangt. Russland (Anhang W, S. 11 und 15) bestritt die Schuld für die Abschüsse am 14. und 16. Juli. Das Außenministerium der Niederlande argumentierte (Anhang W, S. 2 – 3), nach Ermittlungen des niederländischen Militärgeheimdienstes MIVD sei die An-26 gar nicht in dieser Höhe und auch nicht von einem leistungsfähigen Luftabwehrsystem abgeschossen worden. Insofern habe kein Grund bestanden, den Luftraum zu sperren.

Das Ministerium stützt damit nolens volens die Argumentation Russlands und wirft de facto der Ukraine vor, drei Tage vor dem Abschuss von MH17 eine Falschmeldung über den Abschuss einer eigenen militärischen Transportmaschine verbreitet zu haben, um Russland zu diskreditieren.

Die MIVD-Untersuchung dieses Abschusses wird im Bericht zitiert (Anhang B, S. 185 und 239). Aufgrund von Bildern der Schäden (ein Triebwerk getroffen), der Fallschirmabsprünge von sechs der acht Besatzungsmitglieder und von Augenzeugenberichten schloss der MIVD, die An-26 sei mit einer schultergestützten Luftabwehrrakete abgeschossen worden und daher in viel geringerer Höhe (maximal 4.000 Meter). Der DSB in seiner Unparteilichkeit und Urteilskraft kritisiert diese Schlussfolgerung. Er weist darauf hin, dass der Einsatz einer kleineren Luft-Luft-Rakete (als der X-24) ebenfalls zu diesem Schadensbild geführt hätte und nicht in Erwägung gezogen worden sei. Auch Geheimdienste können irren – wegen des Fehlens einer kritischen Gegenöffentlichkeit ist das hier sogar wahrscheinlicher als im Durchschnitt.

Der DSB ist in seiner Verantwortungszuweisung an die Ukraine standhaft geblieben. Damit hat er die ukrainische Regierung hinsichtlich möglicher Schadenersatzforderungen in eine Zwickmühle gebracht. Entweder sie trägt die Risiken beziehungsweise Kosten aus Schadensersatz; oder sie gibt eines späten Tages zu, dass die Meldungen vom 14. Juli und 17. Juli über die Abschüsse in großer Höhe absichtliche Falschmeldungen waren und deshalb objektiv kein Anlass bestand, den Luftraum zu sperren.

„Was ist Wahrheit?“

 

 

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>