2023 erreichte die Öl- und Gasproduktion weltweit einen historischen Höchststand
2023 verkündete der UN-Exekutivsekretär für Klimafragen auf der COP28 den „Anfang vom Ende“ des fossilen Zeitalters. Die Daten erzählen eine andere Geschichte: Öl- und Gasfirmen arbeiten mit Milliardeninvestitionen gegen dieses Ziel an. Öl- und Gasfirmen erschließen derzeit neue Felder, deren Ausbeutung sogar zu einem Temperaturanstieg von mehr als 2 Grad führen könnte; einige dieser Felder könnten noch über das Jahr 2100 hinaus Öl produzieren.

(Berlin/Baku, 12. November 2024) Heute hat urgewald gemeinsam mit 34 Partnerorganisationen die diesjährige Global Oil & Gas Exit List (GOGEL) veröffentlicht. GOGEL ist die umfangreichste öffentliche Datenbank, die die Aktivitäten der globalen Öl- und Gasindustrie offenbart. Sie umfasst 1.769 Unternehmen, die Öl und Gas fördern oder neue fossile Infrastruktur entwickeln: Terminals für Flüssigerdgas (LNG), Pipelines oder Öl- und Gaskraftwerke. Die in GOGEL aufgeführten Förderunternehmen sind verantwortlich für 95 Prozent der weltweiten Öl- und Gasproduktion.
Die Daten zeigen: 2023 erreichte die Öl- und Gasproduktion einen historischen Höchststand. Im heißesten Jahr seit Messbeginn förderten Unternehmen auf GOGEL 55,5 Milliarden Barrel Öläquivalent (bboe). Die globale Öl- und Gasproduktion überschritt damit erstmals Höchstwerte, die zuletzt vor der COVID-Pandemie beobachtet wurden.
„Dieser Negativrekord ist alarmierend. Wenn wir die fossile Expansion nicht aufhalten und keinen kontrollierten Produktionsrückgang einleiten, wird das 1,5-Grad-Limit unerreichbar. Hier müssen wir bei den Klimaverhandlungen in Baku vorankommen“, sagt Nils Bartsch, Leiter der Öl- und Gasrecherche bei urgewald.
Vor einem Jahr verkündete der UN-Exekutivsekretär für Klimafragen auf der COP28 den „Anfang vom Ende“ des fossilen Zeitalters. Die GOGEL-Daten erzählen eine andere Geschichte: Öl- und Gasfirmen arbeiten mit Milliardeninvestitionen gegen dieses Ziel an.
Mehr Geld für Öl- und Gasexploration heißt mehr „Loss and Damage“
Auf der diesjährigen COP29 richten sich alle Augen auf die Verhandlungen über den „Loss and Damage Fonds“. „Die Menschen in afrikanischen Ländern zahlen einen schrecklichen Preis für die Folgen des Klimawandels, obwohl der Kontinent kaum für Treibhausgasemissionen verantwortlich ist“, sagt Bobby Peek, Leiter der südafrikanischen NGO groundWork. „Nach den Flutkatastrophen in Niger, Mali und Nigeria blicken wir auf verwüstete Landstriche, und durch die extreme Dürre am Horn von Afrika sind Millionen Menschen von Hunger bedroht. Für solche klimabedingten Verluste und Schäden aufzukommen hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun, es ist eine Frage von Gerechtigkeit.“
Bei den Klimaverhandlungen im vergangenen Jahr haben die Mitgliedsstaaten 702 Millionen US-Dollar für den Loss and Damage Fonds versprochen – weit weniger als erwartet. GOGEL 2024 zeigt: Abseits des Rampenlichts investieren Unternehmen – jedes Jahr – fast das Neunzigfache dieses Betrags in die Suche nach neuen Öl- und Gasvorkommen. Gemeinsam geben die Unternehmen auf GOGEL jährlich im Durchschnitt 61,1 Milliarden US-Dollar für Exploration aus.
„Es ist pervers, dass Unternehmen jedes Jahr Milliarden von Dollar für die Suche nach neuen Öl- und Gasreserven ausgeben, die in der Zukunft noch mehr Klimaschäden verursachen werden. Die läppische Summe, die die Staaten dieser Welt dem ‚Loss and Damage Fonds‘ zugesagt haben, sind ein Bruchteil dessen, was Big Oil aufwendet, um alles zu verschlimmern. Regierungen müssen dafür sorgen, dass die fossilen Firmen für die Schäden aufkommen und diese Gelder für eine gerechte Transformation nutzen“, sagt Tinaye Mabara von der Agape Earth Coalition.
Kurzfristige Expansionspläne könnten die 2-Grad-Grenze sprengen
Die Exploration von heute ist die Öl- und Gasproduktion von morgen. Schon jetzt erschließen Öl- und Gasfirmen neue Felder, deren Ausbeutung sogar zu einem Temperaturanstieg von mehr als 2 Grad führen könnte. GOGEL listet 578 Förderunternehmen auf, die aktuell daran arbeiten insgesamt 239,3 Milliarden Barrel Öläquivalent aus bisher unerschlossenen Öl- und Gasfeldern in Produktion zu bringen. Einige der Felder, die derzeit erschlossen werden, könnten noch über das Jahr 2100 hinaus Öl produzieren.
Die sieben Unternehmen mit den größten kurzfristigen Expansionsplänen auf GOGEL sind
- Saudi Aramco (19,6 Milliarden Barrel Öläquivalent),
- QatarEnergy (17,8 Milliarden Barrel Öläquivalent),
- ADNOC (9,5 Milliarden Barrel Öläquivalent),
- ExxonMobil und Gazprom (beide 9,4 Milliarden Barrel Öläquivalent),
- TotalEnergies und Petrobras (beide 8,0 Milliarden Barrel Öläquivalent).
Wie wenig den Konzernverantwortlichen das Überschreiten dieser Klimagrenze ausmacht, offenbarte Saudi Aramcos CEO Amin Nasser erst kürzlich, als er auf einer Energiekonferenz in Houston sagte: „Wir sollten die Fantasie eines Ausstiegs aus Öl und Gas aufgeben.“
Wertlose Netto-Null-Zusagen
Die Öl- und Gasindustrie transformiert sich nicht. Ganz im Gegenteil: 95 Prozent der Förderunternehmen auf GOGEL sind auf der Suche nach neuen Öl- und Gasfeldern oder erschließen diese bereits. So auch die Öl- und Gasproduzenten TotalEnergies, Shell, BP, Eni, Equinor, OXY, OMV und Ecopetrol. Sie alle behaupten bis 2050 Netto-NullEmissionen anzustreben. GOGEL-Daten zeigen jedoch: Die kurzfristigen Expansionspläne jeder dieser acht Firmen überschreiten das Netto-Null-Szenario der IEA um mehr als 50 Prozent. Als wäre dies nicht genug, geben sie gemeinsam im Schnitt jährlich 8,4 Milliarden US-Dollar für die Suche nach neuem Öl und Gas aus.
„Die Klimaziele dieser Unternehmen basieren auf völlig unrealistischen Prognosen für den Einsatz von CCS <Carbon Capture and Storage – CO2-Speicherung>, der Nutzung erneuerbarer Energien für den Betrieb ihrer Öl- und Gasanlagen und auf einer Steigerung ihrer Gasproduktion. Keines davon plant, seine Produktion im ausreichenden Maß zu senken, geschweige denn seine Produktion früh genug komplett zu beenden. Es können noch so viele Erneuerbare zugebaut werden, die Welt wird die Erderwärmung nicht auf 1,5 Grad begrenzen können ohne einen schrittweisen Ausstieg aus Öl und Gas“, sagt Regine Richter, Energie- und Finanz-Campaignerin bei urgewald.
Europa: LNG-Ausbau ohne Nachfrage
GOGEL 2024 erfasst alle Unternehmen, die aktuell neue Flüssigerdgas-Terminals (LNGTerminals) entwickeln, und liefert Daten zu deren Ausbau von LNG-Export- und Importkapazitäten. Allein in Europa planen Unternehmen einen Ausbau von LNG-Importterminals, der die bestehenden Kapazitäten um 68 Prozent steigern würde – aktuell liegen diese in Europa bei 209 Millionen Tonnen pro Jahr.
Die LNG-Expansionspläne der Unternehmen stehen im starken Widerspruch zu einem Nachfragerückgang für LNG, der spätestens für das Jahr 2025 prognostiziert wird. Schon jetzt ist die durchschnittliche Nutzungsrate bestehender LNG-Importterminals in Europa niedrig.
Ausbau von Gaskraftwerken in Europa gefährdet Netto-Null bis 2035
Um das 1,5-Grad-Limit zu halten, müssen laut IEA in Ländern mit vergleichsweise hohem Pro-Kopf-Einkommen die Emissionen in der Stromerzeugung schon in den nächsten zehn Jahren auf Netto-Null sinken. Demgegenüber steht ein geplanter Ausbau von Gaskraftwerken in ganz Europa: GOGEL-Daten belegen Ausbaupläne in europäischen Ländern in Höhe von 58,2 Gigawatt (GW). Diese würden die bestehenden Kapazitäten um etwa ein Viertel erhöhen.
Unternehmen wie Enel und RWE widersprechen mit dem Bau neuer Gaskraftwerke selbst formulierten Emissionsreduktionszielen, die eine Einhaltung des 1,5-Grad-Limits zum Ziel haben. Nach einer jahrelangen Planungs- und Bauphase liegt die Laufzeit solcher Kraftwerke in der Regel bei 25 bis 40 Jahren. Bis dahin muss die Welt längst Netto-Null-Verhältnisse bei der Stromerzeugung erreicht haben. Viele der Kraftwerke müssten also absehbar früher vom Netz, und dann drohen massive Widerstände fossiler Energieerzeuger und Milliardenkompensationen des Staates.
Der Gasausbau in Europa lässt sich noch aufhalten. Die Daten zeigen, dass sich nur 33 Prozent der geplanten LNG-Importkapazität und 26 Prozent der Gaskraftwerkskapazität bereits im Bau befinden. Viele der übrigen Projekte warten noch auf finanzielle Zusagen. Jede weitere Entscheidung für den Ausbau von Öl- und Gasprojekten ist eine Entscheidung gegen das Klima. Finanzinstitutionen spielen hierbei eine zentrale Rolle: Sie haben die Wahl, die Welt mit ihren Geldern weiter in fossile Abhängigkeiten zu drängen oder sie in Richtung einer nachhaltigen Zukunft zu bewegen.
Finanzindustrie beginnt mit dem Ausschluss der Öl- und Gasindustrie
Seit Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens haben die 60 größten Banken der Welt Unternehmen mit fossilen Expansionsplänen (Kohle, Öl und Gas) mit 3,3 Billionen US-Dollar finanziert. Mit Blick auf die größten Banken in der Schweiz, Deutschland und Österreich zeigt sich, wie umfangreich die Hausaufgaben im Finanzsektor sind. Der Bericht „Banking on Climate Chaos 2024“, veröffentlicht im Mai, ergab, dass die UBS Unternehmen mit fossilen Expansionsplänen (Kohle, Öl, Gas) in den Jahren nach Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens mit gut 87 Milliarden US-Dollar unterstützt hat.
Trotz dieser düsteren Zahlen wächst das Bewusstsein in der Finanzindustrie, dass eine expandierende Öl- und Gasindustrie mit einer stabilen Klimazukunft unvereinbar ist. Bis zum heutigen Tag haben 39 Finanzinstitutionen wirksame Ausschlusskriterien im Bereich Öl und Gas beschlossen, die Finanzgeschäfte mit großen Teilen der Industrie beenden. Zwei der weltweit größten Banken, BNP Paribas und Crédit Agricole, verkündeten im Mai, dass sie nicht mehr an der Auflage konventioneller Anleihen von Öl- und Gasfirmen teilnehmen werden. Im Juni 2024 gab Union Investment, einer der größten Vermögensverwalter Deutschlands, Einschränkungen für seine Öl- und Gasinvestitionen bekannt – auf Basis der GOGEL.
Regine Richter kommentiert: „Die Öl- und Gasindustrie wird sich nicht transformieren, solange die Finanzindustrie weiter frisches Geld und Versicherungen bereitstellt. Die jüngsten Ankündigungen sind ein gutes Zeichen – und gleichzeitig nur Trippelschritte in die richtige Richtung. Wir brauchen viel mehr Finanzinstitutionen, die bereit sind, scharfe Ausschlussregeln einzuführen. Ansonsten ist das 1,5-Grad-Limit nicht zu halten.“
Über GOGEL
GOGEL ist die umfangreichste öffentliche Datenbank zur Öl- und Gasindustrie. urgewald hat sie aufgebaut, um die Einführung effektiver Beschränkungen für Öl- und Gasunternehmen im Finanzsektor zu erleichtern. GOGEL 2024 enthält detaillierte Informationen zu 1.769 Unternehmen. Die Datenbank erlaubt es ihren Nutzer*innen, Unternehmen auf Basis ihrer Expansionspläne im Bereich Öl- und Gasförderung, Zubau von fossiler Infrastruktur und der Entwicklung neuer Öl- und Gaskraftwerke zu bewerten.
GOGEL zeigt außerdem, welche Unternehmen Expansionspläne haben, die die Grenzen des Netto-Null-Emissions-Szenarios der Internationalen Energieagentur überschreiten. Darüber hinaus zeigt GOGEL die Beteiligung von Unternehmen an ausgewählten Projekten mit hohem Reputationsrisiko, die gewaltsame Konflikte verschärfen, immense soziale und ökologische Schäden verursachen oder durch Klagen und den Widerstand lokaler Gemeinschaften angefochten werden.
270 Finanzinstitutionen weltweit nutzen derzeit GOGEL, um ihre Portfolios zu überprüfen oder neue Ausschlusskriterien zu entwickeln. Viele Akademiker*innen, Journalist*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft nutzen GOGEL ebenfalls, um die Öl- und Gasindustrie zu bewerten und besser zu verstehen. Die Hauptinformationsquellen für die Erstellung der GOGEL sind Unternehmensdaten wie Jahresberichte und Investorenpräsentationen, der Energie-Analysedienst Rystad Energy sowie die Datenbanken unserer Partnerorganisation Global Energy Monitor. GOGEL wird jedes Jahr im Herbst aktualisiert und soll im Laufe der Zeit um weitere Teilbereiche der Öl- und Gasindustrie erweitert werden.
GOGEL 2024 wird von urgewald gemeinsam mit folgenden NGO-Partnern herausgegeben: ActionAid Dänemark, Attac Österreich, Arayara, BankTrack, Both ENDS, Center for Energy, Ecology, and Development (CEED), Centre for Environmental Rights (CER), Coastal Livelihood and Environment Action Network (CLEAN), Climate Action Network (CAN), Friends of the Earth (FoE) Frankreich/Les Amis de la Terre, Friends of the Earth (FoE) USA, Global Energy Monitor (GEM), Green Innovation and Development Centre (GreenID), Collapse Total, Klima Allianz, Laudato Si Movement, Oil Change International (OCI), Rainforest Action Network, Reclaim Finance, ReCommon, Shift Action, Solutions for Our Climate, Stand.earth, Ekō, The PRAKARSA, Maan ystävät (Friends of the Earth Finnland), Groen Pensioen, The Sunrise Project, Ecodefense, Amazon Watch, Green America, Just Share, 350 Japan.
Regine Richter ist Energie- und Finanz-Campaignerin bei urgewald.
