Einstufung von Erdgas und Atomenergie als „nachhaltig“ in der EU-Taxonomie

 

Mit der Zustimmung zum Taxonomie-Entwurf der EU-Kommission, der die Aufnahme von Atomenergie und Erdgas in die Kriterien für nachhaltige Aktivitäten vorsieht, unterminiert das Europaparlament Investitionssicherheit für den notwendigen sozialverträglichen Strukturwandel zur Klimaneutralität. Durch das aufgeweichte Klassifizierungssystem kommen nun auch nicht nachhaltige Unternehmensaktivitäten leichter an frisches Geld; dies droht die notwendige Transformation zentraler Wertschöpfungsketten zu verzögern. Für die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) liegt die Frage nah, ob die Entscheidung des EU-Parlaments auch eine Entscheidung zugunsten der französischen Atomwaffen war, da Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits 2020 klargestellt hat, ohne zivile Atomkraft gebe es in Frankreich keine militärische Atomkraft.



(Berlin/Straßburg, 6. Juli 2022) Das EU-Parlament hat am 6. Juli 2022 dafür gestimmt, Investitionen in Gas- und Atomstrom unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig zu klassifizieren. Einen entsprechenden Vorschlag hat die Europäische Kommission Anfang Februar 2022 vorgelegt.

Die Zustimmung des EU-Parlaments zum Taxonomie-Entwurf der EU-Kommission, der die Aufnahme von Atomenergie und Erdgas in die Kriterien für nachhaltige Aktivitäten vorsieht, stößt bei der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch auf scharfe Kritik. Dieses Schlüsselinstrument für die Transformation werde dadurch schwer beschädigt.

„Das Europaparlament hat nicht die Notbremse gezogen um zu verhindern, dass aus dem zentralen Instrument gegen Greenwashing für den Finanzmarkt ein Instrument für Greenwashing von Gas und Atomenergie wird. Nun wird angesichts angekündigter Klagen von Staaten und Zivilgesellschaft wohl die Justiz das letzte Wort haben“, sagt Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch und ständiger Beobachter des Sustainable Finance-Beirats der Bundesregierung. „Die Entscheidung ist gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und des Einsatzes von Gaslieferungen als Waffe vollkommen aus der Zeit gefallen“, ergänzt Christoph Hoffmann, Referent für klimakompatible Finanzflüsse bei Germanwatch.

Diese EU-Taxonomie wird notwendigen Strukturwandel behindern

Die Einstufung von Erdgas und Atomenergie als nachhaltig wird sich nach Einschätzung von Germanwatch auch negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Europa auswirken. Hoffmann: „Die Entscheidung unterminiert Investitionssicherheit für den notwendigen sozialverträglichen Strukturwandel zur Klimaneutralität. Durch das aufgeweichte Klassifizierungssystem kommen nun auch nicht nachhaltige Unternehmensaktivitäten leichter an frisches Geld. Dies droht die notwendige Transformation zentraler Wertschöpfungsketten zu verzögern.“

Einige EU-Staaten, etwa Österreich und Luxemburg, sowie Akteure der Zivilgesellschaft haben bereits rechtliche Schritte gegen eine Einstufung von Gas und Kernenergie als „grün“ angekündigt. Ein langes juristisches Tauziehen droht.

Bisher wurden lediglich zwei der sechs Umweltziele der Taxonomie mit entsprechenden Nachhaltigkeitskriterien unterlegt und definiert. Kriterien für die weiteren vier Umweltziele sollen noch in diesem Jahr von der EU-Kommission vorgelegt werden. „Die Grundidee der Taxonomie ist weiterhin gut. Umso bedauernswerter ist, dass sie durch die heutige Entscheidung deutlich an Glaubwürdigkeit verliert – bei Investoren, aber auch auf internationaler Ebene. Das ist fatal, denn die gesamten europäischen Bemühungen um nachhaltige Finanzen basieren maßgeblich auf einer soliden und vor allem von den Marktakteuren akzeptierten Taxonomie. Eine wissenschaftsbasierte Ausarbeitung der noch verbleibenden Umweltziele sollte nun umso mehr Anspruch der beteiligten Akteure sein. Das Instrument ist zwar stark beschädigt – dennoch bleiben die anderen Bereiche der Taxonomie klimapolitisch überaus relevant“, betont Christoph Hoffmann.

Deutsche Umwelthilfe prüft rechtliche Schritte

Die Deutsche Umwelthilfe erinnert daran, dass das EU-Parlament mit seiner Entscheidung gegen die Empfehlung der Umwelt- und Wirtschaftsausschüsse gestimmt hat, die klar gegen diese Verwässerung der Taxonomie gestimmt hatten. Die Deutsche Umwelthilfe kritisiert diese Entscheidung aufs Schärfste, da so die Finanzierung neuer umweltschädlicher Gas- und Atomkraftwerke erleichtert wird. Der Umwelt- und Verbraucherschutzverband prüft zudem rechtliche Schritte, um Investitionen in klimaschädliche Projekte zu verhindern. Begrenzte finanzielle Mittel müssen entschieden in eine beschleunigte Energiewende fließen, um die Klimakrise zu bekämpfen und die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen einzudämmen.

Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, kommentiert: „Die EU-Abgeordneten lassen das Vorzeigeprojekt EU-Taxonomie mit ihrem Votum zu einem grünen Feigenblatt für Atomkraft und fossiles Gas verkommen. Die Öffnung der Taxonomie für fossiles Gas und Atomkraft ist angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine besonders verantwortungslos, denn sie zementiert die Abhängigkeit von Energieimporten und macht unsere Energieversorgung unsicherer. Anstatt die Klimakrise mit neuen Gaskraftwerken weiter zu befeuern, müssen wir jetzt mehr denn je in Erneuerbare Energien investieren. Nun ist der Rat der Europäischen Union gefragt: Wir fordern die Mitgliedstaaten auf, den Vorstoß der EU-Kommission entschieden abzulehnen. Die Bundesregierung muss sich jetzt der geplanten Klage Österreichs und Luxemburgs gegen die Taxonomie anschließen. Auch wir werden als Umweltverband rechtliche Schritte gegen dieses absurde Greenwashing prüfen. Es geht darum, umweltschädliche Investitionen in Milliardenhöhe zu verhindern.“

IPPNW: EU-Taxonomie querfinanziert Atomwaffen

Angelika Claußen, Vorsitzende der IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. nimmt zum Abstimmungergebnis im EU-Parlament Stellung:

278 EU-Parlamentsabgeordnete haben sich der Manipulation von Lobbyist*innen aus der Atom- und Gasindustrie unterworfen – 328 Gegenstimmen haben für eine Ablehnung der Kommissionsvorschläge zur EU-Taxonomie nicht gereicht.Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Klimaschützer*innen, aber auch für diejenigen, die sich dafür einsetzen, die Abhängigkeit von der russischen Atom- und Gasindustrie endlich zu stoppen.

Es ist bekannt, dass die AKWs in verschiedenen osteuropäischen Ländern wie der Slowakei, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Slowenien von russischem Kernbrennstoff abhängig sind. Auch die beiden finnischen AKW’s Lovisa 1 und 2 werden mit russischen Brennelementen befeuert.

Hinsichtlich der Pro-Stimmen für Atomenergie aus dem konservativen Spektrum der EU-Abgeordneten aus Westeuropa liegt die Frage nah, ob die Entscheidung zugunsten der französischen Atomwaffen fiel. Präsident Macron hatte es bereits in einer Rede vor den Arbeiter*innen der Atomschmiede in Le Creusot deutlich gemacht: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“

Die IPPNW macht seit Jahren auf die zivil-militärische Nutzung von Atomenergie aufmerksam. Um dem entgegen zu treten, setzen wir uns für den Atomwaffenverbotsvertrag und den Ausstieg aus der Atomkraft ein – in Europa und weltweit. Jetzt hoffen wir auf die Klagen aus Österreich und Luxemburg und fordern die Bundesregierung auf, sich anzuschließen. Diese fatale Fehlentscheidung des Europäischen Parlaments darf nicht so stehen bleiben.“

Bürgerbewegung Finanzwende: Desaster für nachhaltige Finanzmärkte

Anlässlich der Abstimmung im EU-Parlament über Gas und Atomkraft in der Taxonomie erklärt Magdalena Senn, Referentin nachhaltige Finanzmärkte bei der Bürgerbewegung Finanzwende:

„Das Abstimmungsergebnis ist ein Desaster für nachhaltige Finanzmärkte und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Atom und Gas beschädigen die Glaubwürdigkeit der Taxonomie massiv. Statt Klarheit bei nachhaltigen Geldanlagen zu schaffen, wird diese Taxonomie bei Verbraucherinnen und Verbrauchern für Verunsicherung sorgen.

Auch juristisch ist dieser Rechtsakt nicht sauber und widerspricht wohl der zugrundeliegenden Verordnung. Die Bundesregierung hat sich richtigerweise gegen Atom und Gas in der Taxonomie ausgesprochen. Sie steht deshalb nun in der Pflicht, alle Mittel auszuschöpfen, um diesen Irrsinn noch auf dem Rechtsweg zu stoppen.“

Christoph Hoffmann ist Referent für klimakompatible Finanzflüsse bei Germanwatch.