Germanwatch zum Stresstest für die Stromversorgung im kommenden Winter: Das alte fossil-nukleare Energiesystem steckt sichtbar in einer tiefen Krise

 

Insgesamt besitzt Atomenergie im Vergleich zu anderen dringenden Maßnahmen bei der Energieversorgung eine untergeordnete Rolle, um in kritischen Situationen die Netzsicherheit zu gewährleisten. Es bleiben auch bei einer Nutzung der drei verbleibenden Kernkraftwerke Emsland, Isar und Neckarwestheim im Stromnetz deutliche Eingriffe in den Kraftwerkspark nötig, um kommenden die Netzsicherheit zu gewährleisten. Während ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke kaum einen Beitrag zur Energiesicherheit leisten würde, lässt sich laut der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch mit Erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen eine tatsächlich sichere, bezahlbare und nachhaltige Energieversorgung erreichen.



(Berlin, 5. September 2022) Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, kommentiert den von der Bundesnetzagentur vorgelegten Stresstest für die Stromversorgung im kommenden Winter: „Der Stresstest zeigt, in was für einer tiefen Krise das alte fossil-nukleare Energiesystem steckt: Atomkraftwerke in Frankreich stehen still, billiges russisches Gas steht nicht mehr zur Verfügung und weil die Klimakrise die Flüsse austrocknet, geht den Kohlekraftwerken am Rhein der Brennstoff aus. Dieses System sollten wir nicht weiter verlängern, sondern schnellstmöglich überwinden. Dass Markus Söder und seine Vorgänger die Energiewende in Bayern und den dafür nötigen Netzausbau nach Bayern jahrelang verschleppt und verzögert haben, rächt sich nun. Es ist unverständlich, dass die Bundesregierung nicht ihre Möglichkeiten nutzt, die Bayerische Staatsregierung zu verpflichten, in einem Sofortprogramm Erneuerbare Energien auszubauen und Stromnetzlücken zu schließen.“

Bals weiter: „Es wäre absurd, in diesem Winter alte Atomkraftwerke in Deutschland als Antwort auf die sicherheitsbedingte Stilllegung von 60 Prozent der Atomkraftwerke in Frankreich anzuwerfen. Es ist eine wenig plausible Annahme des Stresstests, dass ein hoher Strompreis nicht zu verringerter Stromnachfrage führen würde. Die beiden Atomkraftwerke werden schon deshalb höchstwahrscheinlich nicht gebraucht. Wir brauchen jetzt Eilmaßnahmen, um die Energiesicherheit in diesem Winter zu verbessern, mit dem Schnellausbau Erneuerbarer Energien, Lieferverträgen für Strom aus Nachbarländern und Lastmanagement bei den großen Verbrauchern. Und es braucht jetzt ein großes Paket an Maßnahmen und öffentlichen Investitionen, damit wir im nächsten Winter in einer ganz anderen Situation sind. Dieses Paket muss Energieeinsparungen, Wärmepumpen, Erneuerbare Energien und beschleunigten Netzausbau in den nächsten Monaten voranbringen. Dazu sollten beispielsweise staatliche Abnahmegarantien für Windkraftanlagen, Wärmepumpen und ein verbindliches Energieeffizienzgesetz gehören. Während der Stresstest zeigt, dass ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke kaum einen Beitrag zur Energiesicherheit leisten würde, lässt sich mit Erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen eine tatsächlich sichere, bezahlbare und nachhaltige Energieversorgung erreichen.“

Die Szenarien des zweiten Stresstests

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) teilt heute mit, dass für die drei Szenarien des zweiten Stresstests aus Vorsorgegründen mögliche Auswirkungen einer unterschiedlich kritischen Lage auf den Energiemärkten auf den Stromsektor in Deutschland und Europa untersucht wurden, und zwar in mehreren Stufen. In der neuen Berechnung wurden dabei unter anderem folgende Annahmen zugrunde gelegt:

  • Ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke kehrt nicht bis zum Winter an den Markt zurück. Im Extremszenario (+++) steht nur die Leistung von knapp zwei Drittel der französischen Atomkraftwerke zur Verfügung.
  • Nur ein Teil der möglichen Kraftwerke kehrt nach dem Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz an den Markt zurück ‑ je nach Szenario in unterschiedlichem Ausmaß.
  • Das Niedrigwasser in den Flüssen schränkt Steinkohlelieferungen weiter ein. Die Steinkohlekraftwerke können also auch bei Verbrauchsspitzen deutlich weniger Strom produzieren, im Extremszenario am wenigsten.
  • Ein Viertel (+) bis die Hälfte (+++) der Kraftwerksleistung der Netzreserve ist nicht betriebsbereit.
  • Im kritischen Szenario ist ein Viertel der Gaskraftwerke in Süddeutschland nicht verfügbar, im Extremszenario sogar die Hälfte.
  • Die Stromnachfrage von Heizlüftern erhöht die Verbrauchsspitzen im Gigawatt-Bereich.
  • Der Gaspreis als Eingangsgröße der Berechnungen wurde in allen drei Szenarien einheitlich auf 300 EUR/MWh erhöht.

Konkret zeigten die Ergebnisse der Berechnungen, so das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), dass in einigen Regionen des europäischen Strommarktes in einigen Szenarien die Nachfrage ohne zusätzliche Maßnahmen nicht vollständig gedeckt werden könne. Im sehr kritischen Szenario (++) und dem Extremszenario (+++) würden solche Situationen für sehr kurze Zeiträume, das heißt einige wenige Stunden im Jahr, auch in Deutschland auftreten.

Und weiter: „Für das sehr kritische Szenario ++ wurde in einer zusätzlichen Berechnung der mögliche Effekt einer Verfügbarkeit der drei Atomkraftwerke Emsland, Isar und Neckarwestheim im Stromnetz untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Wenn man die drei Atomkraftwerke verfügbar hält, kann dies in Stresssituationen im Stromnetz nur einen begrenzten Beitrag leisten. Zur Stabilisierung des Stromnetzes würden die drei AKW in einem sehr kritischen Szenario den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nicht um die Nennleistung der AKW senken, sondern nur um 0,5 GW. Es bleibt auch dann ein Redispatchbedarf im Ausland von 4,6 GW (im gerechneten Szenario ++ besteht ohne KKW ein Redispatchbedarf im Ausland von 5,1 GW). Redispatchkraftwerke sind Kraftwerke, die dem deutschen Markt kurzfristig Strom zum Ausgleich von Netzengpässen zur Verfügung stellen können. Es würde zudem ‑ gemessen am Gesamtgasverbrauch ‑ nur minimal Gas eingespart (Promillebereich). Insgesamt besitzt Atomenergie im Vergleich zu den anderen dringenden Maßnahmen eine untergeordnete Rolle, um in kritischen Situationen die Netzsicherheit zu gewährleisten. Es bleiben auch bei einer Nutzung der drei verbleibenden Kernkraftwerke deutliche Eingriffe in den Kraftwerkspark nötig, um die Netzsicherheit zu gewährleisten.“

Christoph Bals ist Politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch.