Macken in den sicherheitspolitischen Beschlüssen in Brüssel am 6. März 2025
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (März 2025)
Verteidigungspolitik ist in der EU nicht „vergemeinschaftet“, sie ist nicht in die EU-Verträge aufgenommen worden. Als Allianz europäischer Nationalstaaten aber können die Europäer unabhängig von EU-Gremien sehr wohl Sachpolitiken wie die Verteidigungspolitik gemeinsam beziehungsweise abgestimmt betreiben. Stellen sich die Europäer zur Zeit wirklich mit kühlem Kopf das ihnen strategisch Mögliche vor Augen?

In der Sicherheitspolitik braucht es einen kühlen Kopf und ein kaltes Herz. Sie muss sich bewähren in Situationen, wo destruktive Gefühle hochschießen, wie Hass und Verachtung. Sicherheitspolitik hat kühl zu managen, wenn einstmals bezogene Positionen zu verlassen sind. Sie muss sich auch ein Scheitern eingestehen können.
Am Donnerstag, den 6. März 2025, haben sich in Brüssel Führer europäischer Staaten zu verteidigungspolitischen Themen versammelt, im Kern war es ein Treffen des Europäischen Rates. Dieses Gremium ist zu sicherheitspolitischen Entscheidungen aus einem speziellen Grund geeignet: Verteidigungspolitik ist in der EU bekanntlich nicht „vergemeinschaftet“, sie ist nicht in die EU-Verträge aufgenommen worden. Als Allianz europäischer Nationalstaaten aber können die Europäer unabhängig von EU-Gremien sehr wohl Sachpolitiken wie die Verteidigungspolitik gemeinsam beziehungsweise abgestimmt betreiben. Der Europäische Rat kann somit zwei Hüte aufsetzen. Er kann einerseits in EU-Funktion tagen; und er kann andererseits jenseits dessen in beliebigem Umfang nicht-vergemeinschaftete Aufgaben an sich ziehen. Letzteres hat er am 6. März 2025 (auch) getan. Dabei musste er nicht präzise sortieren, was EU-Aufgabe ist und was nicht. In dieser Konstellation dürfen im übrigen auch weitere Staaten mit an den Tisch genommen werden.
Schriftlich festgehaltenes Ergebnis des Treffens waren zwei Beschluss-Papiere. Das eine geht, so wörtlich, zur „Europäischen Verteidigung“. Es ist im Schwerpunkt eine bestätigende Antwort auf den Brief mit Vorschlägen, den die Kommissionspräsidentin zwei Tage zuvor an die Mitglieder des Rates gesandt hatte – der war selbstverständlich im Rahmen der EU-Mandate gehalten. Das andere richtet sich an die Ukraine in der aktuellen äußerst prekären Lage in ihrem Abwehrkampf gegen Russlands Streitkräfte, nach dem Clash Selenskyjs mit Trump und seinem Vize im öffentlichen Teil seines Treffens im Weißen Haus am 28. Februar 2025.
Intention dieser Kolumne ist nicht, einen Überblick über die Brüsseler Beschlüsse zu geben; Intention ist lediglich, einige Formulierungen in den Beschlüssen herauszugreifen, in denen meine Sorge bestätigt wird, dass die Europäer nicht mit kühlem Kopf das strategisch ihnen Mögliche sich vor Augen stellen. Es geht um windige Formulierungen, mit denen sie sich eher davonstehlen vor den harten Entscheidungen, die zu treffen wären, wenn man die Realitäten akzeptierte. Es geht auch um Formulierungen, wo sie ihrem Mandatar, den Bürgern, aus anderen Gründen keinen reinen Wein einschenken.
Beschlüsse zur Transformation der europäischen Verteidigung
Klar, es gilt: Die EU ist nicht für Verteidigung zuständig. Ihre Kompetenzen sind beschränkt; doch sie ist dessen ungeachtet zuständig für militärisch Zentrales, für sogenannte „enabler“, das ist im Schwerpunkt die Rüstungsindustrie, die technologische Entwicklung (von Waffen und Aufklärungsmitteln) sowie für die Finanzierung von militärischen Aktivitäten, inklusive Verteidigung im engeren Sinne. Doch dieses Ermöglichende ist von ihr zielgenau nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn strategisch geklärt ist, wem der Neuaufbruch dienen soll, was das Ziel ist. An dieser Stelle herrscht die zentrale Ambiguität des Papiers – aus nachvollziehbaren Gründen beziehungsweise Dilemmata.
Die einschlägige Formulierung lautet:
„the European Council stresses that Europe must become more sovereign, more responsible for its own defence and better equipped to act and deal autonomously with immediate and future challenges and threats with a 360° approach.” (Rz. 4)
Es gibt etliche Adjektive, bei denen die Bildung des Komparativs schlicht Unsinn ist. „Souverän“ und „autonom“ sind zu diesen Vokabeln zu rechnen. Dennoch scheut sich der Europäische Rat nicht, die sicherheitspolitische Rahmenstrategie der Europäer mit Hilfe von Komparativen dieser beiden Adjektive zu beschreiben. Da liegt offenkundig ein Hund begraben. Und der besteht im Verhältnis zur NATO. Die wollen die Europäer nicht von sich aus aufgeben. Sie klammern sich an die rechtliche Hülle, auch wenn die Rückversicherungsgarantie unglaubwürdig geworden ist.
Ein weiterer Punkt ist die Priorisierungsliste von Kapazitäten in Form von Waffensystemen. Dazu hatte die Präsidentin der EU-Kommission in ihrem Brief einen Vorschlag gemacht, als erste Säule ihres „European response plan ‑ REARM Europe“.
Da wird angekündigt, dass die EU 150 Milliarden Euro an Krediten aufnehmen will, um sie „als Kredite“ an Mitgliedstaaten weiterzureichen. Der Sinn der indirekten Kreditaufnahme scheint zu sein, Staaten, die Schwierigkeiten haben, sich noch höher zu verschulden, zu entlasten. Im Effekt bringt das einen Zinseffekt von vielleicht zwei Prozent-Punkten, von EU-Ebene fließt damit netto ein Volumen von etwa drei Milliarden Euro. Als Gegenleistung fordert die EU, dass mit diesen Mitteln allein Waffen aus der Priorisierungsliste angeschafft werden.
Frau von der Leyen hatte auf der Verteidigungsseite gegen Flugkörper „air and missile defence“ berücksichtigt, auf der Angriffsseite sich mit „artillery systems“ auf nur kürzer reichende Waffen beschränkt. Das fand das Missfallen des Europäischen Rates. Flugs wurden mit der freihändigen Formulierung
„artillery systems, including deep precision strike capabilities”
die weitreichenden, für die strategische Stabilität höchst problematischen Mittelstreckenwaffen, die die Europäer gerne entwickeln wollen, zu einer erweiterten Form von Artillerie umdefiniert und so in die Priorisierungsliste eingereiht.
Diese Einordnung wird den Waffensystemen, die zum präemptiven Schlag gegen gegnerische Hochwertziele, vorsichtig formuliert, „einladen“, nicht gerecht.
Beschlüsse, die sich an die Ukraine richten
Die aktuelle Situation um die Ukraine ist dadurch gekennzeichnet, dass die USA die Ukraine zur Bereitschaft für eine Einstellung der Kampfhandlungen zu zwingen versucht. Dazu unterbinden sie den Fluss von Waffen aus den Mitteln und gemäß den Beschlüssen der Vorgänger-Administration in den USA und sistieren die Bereitstellung von „intelligence“ an die Ukraine, machen die weitreichenden Waffensysteme der Ukraine damit weitgehend blind. Von einem erneuten Beschluss zur Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen für die Ukraine aus dem Haushalt der USA war erst nicht einmal die Rede.
Als die Taschen der USA für sie noch geöffnet waren, als die Europäer und die USA sich die militärischen und finanziellen Unterstützungsleistungen in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr noch in etwa teilten, schafften es die ukrainischen Militärs, ihre befestigten Verteidigungslinien gerade noch so zu halten, wenn auch unter regelmäßigen taktischen Rückzügen. Angesichts der aktuellen prekären, von der Unterstützung des Westens völlig abhängigen Situation formulieren die Europäer ihre Solidarität mit der Ukraine mit folgenden Worten.
„Achieving ‘peace through strength’ requires Ukraine to be in the strongest possible position, with Ukraine’s own robust military and defence capabilities as an essential component. This applies before, during and after negotiations to end the war. To that end, the European Union remains committed, in coordination with like-minded partners and allies, to providing enhanced political, financial, economic, humanitarian, military and diplomatic support to Ukraine and its people …”
So in Pkt 5, um unter Pkt. 6 zahlenmäßig konkret zu werden:
„The European Union will continue to provide Ukraine with regular and predictable financial support. In 2025, it will provide Ukraine with EUR 30.6 billion, with disbursements from the Ukraine Facility expected to reach EUR 12.5 billion, and EUR 18.1 billion under the G7 ERA initiative”
So soll die Solidarität der Europäer für die angebliche Bemühung mit dem Ziel eines ‘peace through strength’ aussehen? Ist die Erwartung ernstlich die, dass die Ukraine mit einem Drittel der bislang bereitgestellten Mittel in eine Position der Stärke kommt? Ich habe nicht verstanden, wie das zusammenpassen soll. Konsistent wäre die Position der Europäer allein, wenn sie die ausfallenden Mittel der USA substituierte und noch deutlich etwas darauflegte. Dann wären wir bei 100 Milliarden Euro pro Jahr. Das aber ist nicht finanzierbar, das ginge zu Lasten des Aufwuchses eigener Fähigkeiten. Das aber priorisieren die Europäer offenkundig.
Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).