Unter dem Titel: „Aufrüstung als ethische Verantwortung oder Verfehlung?“ fand am 30. und 31. Januar 2025 in der Evangelischen Akademie Loccum ein Studientag der Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD statt. Der Habilitand am Lehrstuhl für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie der Ruhr-Universität Bochum, Dr. Maximilian Schell, und der Politikwissenschaftler Andreas Dieterich verfassten dazu einen Bericht, der auch als „Tagungsbeobachtung“ auf der Website der Akademie zu lesen ist.
Zuallererst muss hervorgehoben werden, dass es sich bei diesem Report um einen hervorhebenswerten Ost-Westbeitrag handelt. Seit vielen Jahren haben wir beklagt, dass dies in den letzten Jahrzehnten nur selten vorgekommen ist! Wertvoll ist das Papier auch, weil es sich unter sonst meist einseitigen und polemischen Beiträgen durch Sachlichkeit und Wegweisung hervorhebt.
Hier soll zu wesentlichen Aussagen aus der Sicht eines Mediziners, eines Verfechters des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung seit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag Düsseldorf 1985 mit dem Schwerpunkt „Ökumene der Weltreligionen“ und als früher Verantwortlicher der IPPNW Deutschland (Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V.) Stellung genommen werden. Ich bin begeistert über viele wertvolle Ausführungen zu einem „gerechten Frieden“, für „ein Weltgemeinwohl …[und eine] nachhaltige Entwicklung“ in diesem in Loccum ermöglichten „außergewöhnlichen Diskursraum zu einem hoch relevanten und brisanten Thema … direkte Begegnung von friedens- und kirchenpolitischen mit rüstungspolitischen und wirtschaftlichen Akteuren“. Viele markante Aussagen kann ich als jahrzehntelanger Basisvertreter christlicher Friedensbewegung im Sinne einer konziliaren Friedensethik voll unterstützen und möchte ich punktuell erweitern und weiter fortschreiben.
Uns belastet „die Gefahr entfesselter Militarisierung, Eskalations- und Rüstungsspiralen oder gesteigerte wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen der Konfliktparteien … die Gefahr des Militarismus, Rüstung ja, aber wieviel, und wo bleibt die Frage der Rüstungskontrolle und Abrüstung?“ „Auch in akademischen Diskursräumen ist dieser Wandel spürbar: beispielsweise durch die zunehmende Einschränkung von Zivilklauseln an Universitäten“. Aktuell wird zum Beispiel in einem offiziellen Artikel „AOK Presse und Politik“ vom 25. Februar 2025 weit gestreut, ein problematisch legitimierter „Expertenrat fordert kriegs- und krisenfestes Gesundheitssystem“ (10. Dezember 2024). „Dazu solle das geplante Gesundheitssicherstellungsgesetz ‚mit höchster Priorität‘ abgeschlossen werden … das Gesundheitswesen [ist] besser auf militärische Konflikte vorzubereiten …‚ Resilienz und Gesundheitssicherheit‘ im Krisen- und Bündnisfall … [benötige eine] ‚deutlich verbesserte, strukturierte zivil-militärische Zusammenarbeit‘ “. „Mit Blick auf die Drehscheibenfunktion Deutschlands bei einem bewaffneten Konflikt sieht der Rat zudem Regelungsbedarf bei der Versorgung alliierter Kräfte und Patienten. Auch die Bevorratung bestimmter Arzneimittel und Medizinprodukte sowie regelmäßige Ernstfallübungen sollten nach Auffassung des Rates gesetzlich verankert werden.“ Wir werden erinnert an eine apokalyptische Vision bei atomarer Kriegsführung Ende der 1980er Jahre in einem Film aus Osteuropa „Die Toten werden die Lebenden beneiden!“
In Loccum wurde festgestellt: „Ein weiteres Merkmal der Militarisierung ist ihre enge Verknüpfung mit Prozessen … [utopischer Sicherheitsdebatten] und der Konstruktion von Feindbildern.“ Stets solle bedacht werden: „auch ein ‚Danach‘“. „ Momentan sei die Diskussion stark einseitig, während die Stimme des Friedens kaum Gehör fände.“
„Zudem fehlt es derzeit an kritischen Stimmen aus der Kirche und der Zivilgesellschaft, die sich mit der zunehmenden Militarisierung und der Rückkehr zur Abschreckungspolitik auseinandersetzen.“ Dies trifft – Gott sei Dank – zum großen Teil nicht zu! Gerne erinnere ich an Margot Käsmann oder den biblisch begründeten überzeugenden „Christlichen Friedensruf Hannover 2025“.
Die deutsche Friedensbewegung hat sich überwältigend „großartig und mutig“ zu Wort gemeldet. Ich erinnere an die IPPNW-Ärzte gegen „zunehmende Militarisierung der Medizin“, IALANA-Juristen: „Das Grundgesetz braucht keine Schattenhaushalte fürs Militär“, NatWissenschaftler: „Keine neue Ära der Aufrüstung!“ und die 2017 friedensnobelierte Organisation ICAN Deutschland: „Nukleare Abschreckung ist illegitim … eine existentielle Bedrohung für alle“. „Großartig und mutig“ auch in einem friedensstiftenden „Appell an die Abgeordneten des Bundestages“ von Pax Christi, DFG-VK, Netzwerk Friedenskooperative und AGDF: „Stoppen Sie die Aufrüstung! Stimmen Sie gegen die geplante Grundgesetzänderung“. Ihm haben sich bundesweit 36 Organisationen angeschlossen, auch Vertreter einer Evangelischen Landeskirche und einer Stadtkirchengemeinde. Schon 2024 fühlten sich Gewerkschaften durch Aufrüstung und Krieg bedroht: „Friedensfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit“ und haben den Ostermarsch-Aufruf über 213.000 Menschen unterzeichnet.
„Die pauschale Akzeptanz der ‚Zeitenwende‘ als unumstößliches Narrativ muss hinterfragt werden. Es gilt, die Hoffnung auf Frieden zu bewahren und daran zu glauben, dass trotz aktueller Kriege eine gerechtere Weltordnung möglich ist. Die Kirche kann hierbei eine konstruktive Gegenperspektive einbringen.“ So war sich Bischof Friedrich Kramer, Magdeburg, nicht zu schade, hier in Stuttgart beim Ostermarsch 2025 seine überzeugende Stimme zu erheben – warum bislang in deutschen Landen nur ein Novum?! „Sicherheit kann nicht allein nur militärisch gedacht werden.“ Deshalb kann sprachlich nur von „Verteidigungsfähigkeit“ gesprochen [und natürlich danach gehandelt] werden, „von der Notwendigkeit, konventionelle Abschreckung mit so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich Rüstung und Drohpotential zu gestalten“ und dass „Aufrüstung gerade in den öffentlichen Diskurs gehörten“.
Was wird in heutiger Zeit wieder gesät, wenn etwa die Stuttgarter Zeitung in diesen Tagen als Hauptüberschrift des Regierungsprogramms tituliert, „Deutschland soll stärkste militärische Macht in Europa“ werden. In Loccum wurde bewertet, dass auch die „Forderung nach immer höheren Verteidigungsausgaben bei gleichzeitiger Ineffizienz in deren Nutzung … ein ethisches Problem“ darstellt. „Darüber hinaus müssen sicherheitspolitische Debatten grundlegend anders geführt werden. Eine stärkere gesellschaftliche Beteiligung ist erforderlich, und die Zivilgesellschaft sowie die Kirche können eine wichtige Rolle spielen, indem sie sich sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene für eine differenzierte und verantwortungsbewusste Diskussion einsetzen.“
„Eine der primären Aufgaben der Kirchen [ist], den Frieden mitten im Konflikt zu bezeugen und all die Initiativen zu stärken, die bereits jetzt gewissermaßen eine utopische – theologisch gesprochen: eine eschatologische – Wirklichkeit verkörpern.“ Hier ist an Projekte in Gemeinden zu denken, an „Verständigungsorte“, an Versöhnungsprojekte“, „an die Chancen der weltweiten Ökumene und auch an die Chancen der weltweiten universitären Zusammenarbeit mitten im Krieg.“ „Aufgabe der Kirchen ist es, an der regulativen Idee des Gerechten Friedens festzuhalten und immer wieder zu fragen, wie er trotz aller Rückschritte prozesshaft zu implementieren ist … [etwa im Sinne] Wer den Frieden will, der bereite immer wieder und gegen allen Anschein den Frieden vor. Auch in Zeiten des Krieges und der Infragestellung von Demokratie und regelbasierter Ordnung“.
Auch ich kann begrüßen, „dass sich in den verschiedenen Gesprächsgängen während der Tagung alle einig waren, dass Frieden nicht allein über Sicherheit und Abwesenheit von Gewalt implementiert werden kann, sondern dass es gleichzeitige Bemühungen um Gerechtigkeit, um Freiheitsförderung, um Abbau von Not und um innerdemokratischen Zusammenhalt braucht.“
Offensichtlich wurde redaktionell hinzugefügt, was auch ich voll unterstützen würde: „Es braucht entgegen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Trends weiterhin Bemühungen um eine verstärkte Verletzungssensibilität für strukturell benachteiligte Gruppen, es braucht den intersektionalen Blick auf strukturelle, sprachliche und direkte Diskriminierung, einen kritischen Blick auf Sexismus, Rassismus, Klassismus und Ableismus.“ Und ich persönlich würde noch hinzufügen: Es braucht „statt niedermetzeln besser zusammenleben, ‚Wertvolle Elemente‘ von Konvivialismus überwinden neoliberalen Kapitalismus“.
„Vor diesem Hintergrund ist zum Schluss auf die letzte große Aufgabe der Kirchen zu verweisen: Das Gebet und die Friedensspiritualität … [die uns letztlich] in all unserem vermeintlichen Wissen und Besserwissen um den Krieg und den Frieden demütig macht. Nicht über-, sondern miteinander reden“.
Ulrich Börngen, Stuttgart, Mai 2025.
Der Bericht „Aufrüstung als ethische Verantwortung oder Verfehlung?“ steht über diesen Link zum Download als PDF-Datei bereit.