»Du wirst noch an mich denken«

 

Dorothee Röhrig, »Du wirst noch an mich denken« ‑ Liebeserklärung an eine schwierige Mutter, 4. Auflage, 2023, dtv, München, 256 Seiten, 24.00 Euro.

Wenn man sich in die Lektüre dieses Buches hineingibt, stellt sich bald die Frage: Für wen ist dieses Buch geschrieben? Die Antwort erhält man auch in diesem Buch, das ist schön. Dorothee Röhrig schreibt: „Mit dem Buch habe ich mir ein Geschenk gemacht. Zwei Jahre mehr mit meiner Mutter. Es ist ein Geschenk an uns beide.“ (s. 233)

Das Buch ist aber durchaus auch ein Geschenk für mich, die ich zwei Jahre jünger als Röhrig bin und ähnliches erlebt habe mit meiner Mutter, ohne dass so namhafte Familienmitglieder wie Bonhoeffer und Dohnanyi mit im Spiel waren. Es ist die Art und Weise wie Menschen vom Schicksal getroffen wurden und wie sie damit umgegangen sind. Heute sprechen wir von Traumatisierung.

Was nicht zu bewältigen scheint, wird beiseitegelegt, “zum Übrigen gelegt“ (S.69), unter den Teppich gekehrt; sowohl Fremdes, das widerfährt als auch Eigenes, in der Person oder Familie Erlebtes. Wie ist Großmutter gestorben? Kann es Selbstmord gewesen sein? (S.63). Diese Frage darf erst gar nicht aufkommen. Gefühle werden nicht „gefühlt“, nicht zugelassen. „Man lässt sich nicht von den eigenen Gefühlen überwältigen. Dieses Versteckspiel der Emotionen wird in unserer Familie früh erlernt und an die Kinder weitergegeben. An meine Mutter. Und an mich.“ (S.90). „Bloß keine direkte Konfrontation.“ (S.112) Die Angst vor der Auseinandersetzung gehört auch dazu. Das führt zu vielen und großen Familiengeheimnissen, Erwartungen und Ansprüchen.

Das schwere Leben wurde vermeintlich erträglicher gemacht durch Be- und Verurteilungen. „Man urteilt und verurteilt. ‚Du bist ja nicht bei Trost.‘“ (S.101) „Wir beurteilen und verurteilen, schätzen gering oder schätzen wert, haben zu allem und jedem eine Meinung. So entstehen Härte und ein ewiges Ringen um Bedeutung.“ (S. 203)

„Es bleibt ein Traum, dass ich meiner Mutter zu sagen wage, was ich denke….Gefühle sind in der Familie deutlich abgegrenzte Sperrzonen. Schwächen erst recht.“ (S.158) Die Nöte der Tochter mit der, von der Mutter gelebten Ambivalenz umzugehen, werden deutlich.

„Obwohl ich weiß, dass sie nicht immer loyal ist, mich nicht versteht, mich ablehnen und mit mir wetteifern wird. Obwohl ich ihre doppelte Zunge kenne.… Ich spüre ihre Distanz und buhle aus diesem Grund um ihr Vertrauen. Diese fatale Ambivalenz der Gefühle, die unserem Glück im Weg steht.“ (S.176)

Vieles Erlebtes ist anders, vieles Erlebtes ist gleich oder ähnlich mit dem von mir Erlebtem. Wäre das richtige Fazit zu sagen, dass das, was uns in der Erfahrung mit unseren Müttern quälte, nicht unbedingt etwas durch die Person Bestimmtes ist? Vieles an dem Umgang mit der nachwachsenden Generation war zeitbedingt, der Situation geschuldet und den Möglichkeiten, die diese Mütter hatten, um mit dem ihnen zugeteilten Schicksal umzugehen.

Dr. Heiderose Gärtner-Schultz