himmlisch wohnen

 

„Der dänische Philosoph Sören A. Kierkegaard [(1813-1855)] hatte bereits etliche Bücher – etwa über den ‚Begriff Angst‘ oder ‚Die Krankheit zum Tode‘ nebst mehreren Predigtbüchlein – veröffentlicht, als sein treuer Diener Anders Vestergaard einmal an ihn mit der Bitte herantrat, er möge ihm versichern, dass die Seele unsterblich sei; das würde ihm eine Gewissheit vermitteln, mit der er dem Tod beruhigter entgegensehen könne. Kierkegaard aber gab ihm fogenden weisen Bescheid: Wir seien in dieser Frage alle gleichermaßen unwissend; jeder Mensch müsse sich zwischen den beiden Möglichkeiten, ob es nach dem Tod weitergehe oder nicht, glaubend entscheiden, und gemäß dieser Wahl werde seine Überzeugung ausfallen.“

Ob und wie es nach unserem Tod weitergeht, darüber können wir kein zweifelsfreies Wissen erlangen. Klar ist: Der menschliche Körper verliert nach dem Tod seine Fähigkeit, vererbbare Information zu produzieren und sie weiterzugeben, der menschliche Körper nimmt aus seiner Umgebung keine Energie mehr auf und wandelt sie nicht mehr um, sodass er mit dieser Umgebung zusehends komplett in den Zustand eines thermodynamischen Gleichgewichts eintritt ‑ und irgendwann schließlich werden sich dann auch seine elementaren Bestandteile soweit aufgelöst haben, dass nicht mehr zu unterscheiden sein wird, was nun ursprünglich menschlicher Körper war und was Umgebung.

Wie verhält es sich dabei mit der Seele, von der Anders Vestergaard, Kierkegaards Diener, sprach? Für die fühlen sich die Religionen zuständig. Deren Funktionäre stellen auf der Basis von schriftlichen Überlieferungen und Plausibilitäts-Betrachtungen einen Binnenkonsens in ihrer jeweiligen Community her über Fragen von Tod und Sterben, ein Leben nach dem Tod und entsprechend dem Seelenverbleib. Spirituell suchende Zeitgenoss*innen, vielleicht wie Anders Vestergaard seinerzeit im 19. Jahrhundert, können sich dann solchen Überlegungen anschließen oder es bleiben lassen. Formelhaft erstarrtes Denken und eine in Worthülsen geronnene Sprache lassen Menschen heutzutage eher weg- als zuhören, wenn die großen christlichen Kirchen versuchen, vom Tod und von ihrer Auferstehungshoffnung zu reden.

Und dann kommt da plötzlich Werner Thiede um die Ecke mit seinem Büchlein „himmlisch wohnen“:

Werner Thiede, „himmlisch wohnen –Auferweckt zu neuem Leben“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2023, 72 Seiten, 12.00 Euro.

Der frühere Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und außerplanmäßige Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg Werner Thiede meditiert das Sterben als Umzug eines Menschen vom Leben im „Diesseits“ in das Leben nach dem Tod, gleichsam als Wohnungswechsel. Ein solcher Wechsel will vorbereitet sein. Nun weiß man allerdings in der Regel, wann man im „Diesseits“ von einem Ort zum anderen umziehen und wieviel Raum einem zur Verfügung stehen wird. Mit dem Sterben ist das gewöhnlich anders. Und auch ein*e Theolog*in ist da keinen Deut schlauer als jeder andere Mensch. Das weiß auch der Theologe Werner Thiede (die anfangs zitierte Kierkegaard-Geschichte stammt aus „himmlisch wohnen“), und er lässt keinen Zweifel daran. Was macht er nun aus der Situation?

Werner Thiede stellt sich nicht vor seine Leser*innen ‑ die Anders Vestergaards und ihm ähnlich Gewissheit Suchende von heute ‑, um ihnen sein Anliegen theologisch zu erklären; Werner Thiede tritt zur Seite. Ein bekanntes Lied von Paul Gerhardt endet mit: „Ei nun, so lass ihn <Gott> ferner tun und red ihm nicht darein, so wirst du hier im Frieden ruhn und ewig fröhlich sein.“ In den zwölf Kapiteln seines Büchleins entfaltet Werner Thiede suchenden Menschen Gedanken um Tod, Sterben und Ewigkeit und lässt ihnen selbst jeden Raum, in eigener Verantwortung weiter zu denken, zu spüren, zu hoffen. Möglicherweise auch anders als Werner Thiede selbst.

Dem „Haupttext“, mit vielen zugespitzt formulierten Gedanken, angegliedert sind immer wieder im Druck prägnant hervorgehobene, kurze Zitate aus der Bibel, von Schriftsstellern, Theologen und auch anderen. Etwa: „Die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn unseres Lebens fragen. Das Leben ist es, das Fragen stellt; wir sind die Befragten, die zu antworten haben.“ (Viktor E. Frankl) Wunderschön auch die Zitate von Karl May! Und als weiteres Element benutzt Werner Thiede selbst verfasste Gedichte, die jeweils auf einer ganzen Seite abgedruckt sind, zum Beispiel: „Zielgerade/ Wir taumeln durchs Leben/ manche mit mehr Glück als Verstand,/ manche mit mehr Pech als Verstand,/ bis uns am Ende das Schicksal/ aller Sterblichen ereilt/ und sich uns so oder so/ Unsterblichkeit eröffnet“.

So meditieren wir als Leser*innen den Text mehr als dass wir ihn als Informationsquelle zum Thema Tod und Sterben „konsumieren“. Und mittlerweile zu bloßen, nichts mehr sagenden Formeln abgelutschte Begriffe, wie etwa „christliche Hoffnung“ oder „befreiende Gewissheit“ (oder das genannte Zitat von Viktor E. Frankl), entwickeln auf einmal wieder einen kraftvollen, faszinierenden Geschmack. Einfach nur, weil Werner Thiede darauf verzichtet, den theologischen Lehrmeister zu spielen und Gott in die Kommunikation mit seinen Menschen „darein“ reden zu wollen, wie es eben bei Paul Gerhardt heißt.

Ein wundervolles Buch! Werner Thiede lässt seine Leser*innen, die Anders Vestergaards von heute, bei der Frage, ob sie eine Seele besitzen, die unsterblich ist, und wie es nach dem Tod weiter geht, nicht allein, und er bevormundet sie geistlich nicht. Seine Gewissheit überzeugt, die zwischen allen Zeilen hervorschimmert. Einige Kapitelüberschriften seien aufgelistet: „Diesseitsflucht oder Jenseitsflucht?“, „Angst vor Wohnungslosigkeit nach dem Tod?“, „Gottes Liebe will keine ewige Obdachlosigkeit“, „Auferstehung als Aufsteigen ins himmlische Wohnen?“, „Umzug: Wo bleiben zwischen Tod und Auferstehung?“, „Herrliche Vergottung“, „Neue Adressen“. Ein Buch nicht bloß zum ein Mal Lesen, ein Buch zum immer wieder Meditieren.

Michael Wildberger.