Judas (wbl.), 1943/4 Die Opfer Goerdeler und Kreiten

 

Helga Schubert, „Judasfrauen“, 2021, dtv, München, 176 Seiten, 11.00 Euro.

Helga Schubert, Jahrgang 1940, ist Psychotherapeutin und Schriftstellerin aus der DDR. Sie wollte die „Denunziation“ in autoritären Regimen, wie sie sie in der DDR beobachtete, zum Thema machen. Direkt war das als Publikation aussichtslos, also hat sie dafür einen indirekten Zugang gewählt: Sie hat das Thema in die NS-Zeit verlegt; damit hatte sie zudem den Vorteil, vollen Zugang zu Akten des (Freislerschen) Volksgerichtshofs zu erhalten – Empirie satt. Sogar im Westen, in der Berliner Staatsbibliothek, konnte sie recherchieren. Ausgewählt hat sie den Verrat von Frauen, „Judasfrauen“ in zehn Geschichten bevölkern ihr Buch.

Recherchiert hat sie zu DDR-Zeiten, mit enormem Aufwand. Als das Manuskript 1989 fertig war, erhielt sie dort nicht die Erlaubnis zu publizieren – in etlichen Vorträgen in Evangelischen Gemeinden war es aber schon Gesprächsthema. Die Erstauflage hat im Jahre 1990 das Licht der Welt erblickt, und zwar im Westen. Ich stelle es hier vor auf Basis der Taschenbuch-Auflage von 2021, mit neuem Vorwort. Das ist für das hier Ausgewählte entscheidend.

Ein Buch, aus dem man vorträgt, erzeugt auch Resonanz; und historische Geschichten sind nie ausrecherchiert, es gibt immer offene Enden. Helga Schubert hatte das Glück, dass ihr nach einer Lesung zu einer zentralen Protagonistin eine „Fortsetzung“ berichtet wurde, die nicht in den Akten steht. Bei dem Ansatz des Buches ist die Ergänzung, die ihr zuteil wurde, schon eine zentrale.

Das Modell Judas

Das Modell schildert Schubert in größter Kondensation so:

Judas ist der Mensch, den ich beim Schreiben vor Augen hatte:

  • der sein Opfer liebt,
  • der es verrät,
  • der einen Lohn dafür erhält,
  • der sich erhängt, als er Christus sterben sieht.

So sei es den Frauen in diesem Buch auch gegangen.

Ich glaube, dass auch sie Opfer der Diktatur waren. In demokratischen Verhältnissen hätten sie für andere Menschen nicht todbringend werden können. Sie konnten der Versuchung zum Verrat nicht widerstehen. … heute, … ungefähr achtzig Jahre, nachdem diese Geschichten spielen, sollten wir uns von ihnen emotional angreifen lassen. Weil die Diktatur eine furchtbare, eine Grauen erregende, verführerische, eine Leben zerstörende Täterin ist,

Liebe, enttäuschte Liebe, auch Selbstliebe, meist infantil gebliebener Frauen, spielt eine entscheidende Rolle.

Durchführung im Buch – die Denunziation des steckbrieflich gesuchten Carl Goerdeler

Frau Schubert geht mit großer Diskretion vor. Nur in drei Geschichten spricht sie mit Klarnamen, in allen anderen Fällen sind die Protagonist:innen anonymisiert. Zu den drei Ausnahmen zählt der Verrat von Carl Goerdeler, der nach einem Erfolg des Offiziersputsches am 20. Juli 1944 das Amt des Reichskanzlers hätte übernehmen sollen – er wurde nahe Danzig von einer einfachen Frau („Helene“ war hier der Name für „Judas“) verraten, die ihn als achtzehnjährige Nachbarin in Königsberg 1920 auf der Straße öfters gesehen und gegrüßt hatte, als Goerdeler dort das Amt des Bürgermeisters übernommen hatte. Als Goerdeler seit dem 1. August 1944, mit breiter Plakatierung, steckbrieflich gesucht wurde, fragte sie sich, ob sie ihn, 24 Jahre später, wohl erkennen würde. In einer Gastwirtschaft in der Nähe von Danzig, am 12. August, war es soweit: Die inzwischen 42-jährige unverheiratete Frau, die mit etwa 15 Kolleg:innen zum Essen war, erkannte ihn als Gast. Ihr Vorgesetzter, der Goerdeler aus Danzig ebenfalls persönlich kannte, wiegelte tuschelnd ab: „Nein, nur eine Ähnlichkeit.“ Als Goerdeler kurz danach aufstand und ging, gab es unter den 15 eine offene Debatte – das Motiv der 42-Jährigen, auf ihr „Ich habe ihn erkannt“ zu bestehen, während alle 14 anderen sagten, die Gesichtszüge der Person entsprächen nicht denen der im Steckbrief, war allein, dass sie das Bestreiten als Abwertung ihrer Person empfand. Dass der Stand 14 zu 1 andere Motive gehabt haben könnte, dass es in Wahrheit nicht um die Richtigkeit ihrer Aussage ging, das zu begreifen war ihr nicht möglich. Doch dann, wenig später, dieser Schluss:

Helene sah, wie er <Goerdeler> in das Polizeiauto einsteigen musste. Da weinte sie bitterlich …

Die Denunziation von Karlrobert Kreiten

Karlrobert Kreiten war ein junger, begnadeter Pianist, Meisterschüler von Claudio Arrau – am Tage seiner Hinrichtung in Plötzensee, am 7. September 1943, war er 27 Jahre alt. Er kam aus einer bekannten, gut vernetzten Düsseldorfer Musiker-Familie, seine Mutter war die Mezzo-Sopranistin Emmy Kreiten, geb. Liebergesell (1894-1985), sein Vater der niederländische Komponist und Konzertpianist Theo Kreiten (1887-1960). Ihre Hauskonzerte machten sie zum Mittelpunkt der musikalischen Gesellschaft Düsseldorfs.

Der junge Karlrobert Kreiten gab sein Debüt als Elfjähriger mit einem Mozart/Schubert-Programm in der Tonhalle Düsseldorf. Von 1935 bis 1937 studierte er bei Hedwig Rosenthal-Kanner in Wien – sie gab ihm den Rat, ihr in die USA zu folgen, doch Kreiten wollte seine Karriere erst einmal in Europa ausbauen. Er fühlte sich unbedroht. Ende 1937, als 21-Jähriger, siedelte Kreiten stattdessen, auf Furtwänglers Rat hin, nach Berlin über. Seine Karriere verlief überaus erfolgreich.

Im März 1943 kam er in eine praktisch schwierige Situation. Seine Wohnung war schon länger zu klein für Kersten, mit Schwester und Großmutter; seine Suche nach einer größeren Wohnung im Tausch war erfolgreich – doch der Umzugstermin lag wenige Tage vor seinem großen Klavierabend am 23. März 1943 in Berlin. Wo sollte er üben?

Da meldete sich Ellen Ott-Monecke, eine Jugendfreundin seiner Mutter – beide waren einst Gesangsschülerinnen am Saarbrücker Konservatorium. Die wird von dem Problem von der Mutter erfahren haben und bot deshalb ihr Musikzimmer zum Üben an. In den Übepausen redete Kreiten mit seiner Gastgeberin, ohne Vorbehalt, unwissend, dass er bei einer überzeugten Nationalsozialistin Unterschlupf gefunden hatte.

In ihrer Entsetzheit tratschte Ellen Ott-Monecke weiter, was Kersten gesagt hatte, an ihre Nachbarin, Frau Ministerialrat Annemarie Windmöller, die als Schulungsleiterin der NS-Frauenschaft tätig war. Die wiederum besprach das mit der Sopranistin Tiny Debüser, die früher im Reichspropaganda-Ministerium gearbeitet hatte und nun ebenfalls in der Frauenschaft aktiv war. Die kam aus Düsseldorf und kannte die Familie Kersten mit ihrem begnadeten Wunderkind – und beneidete sie wohl auch.

Diese beiden Frauen waren es, die Ellen Ott-Monecke die Pistole auf die Brust setzten und erfolgreich durchsetzten, dass die erste Denunziation, von allen Dreien unterzeichnet, Mitte März bei der Reichskulturkammer eingereicht wurde. Kersten wusste von nichts, er übte und sein Konzert am 23. März war ein großer Erfolg – von dem in der Presse auffälligerweise aber kaum Notiz genommen wurde. Den denunzierenden Damen, unter denen zumindest die Ministerialrätin Profi war, wussten: Die Anzeige war in der Reichskulturkammer in den Reißwolf gesteckt worden – es gab auch da Menschen mit klarem Blick auf die nächsten Jahre.

Ende April war klar, dass die Sache im Sande verlaufen war. Die ursprüngliche Tratschtante wollte auch nicht mehr – die beiden ministerialerfahrenen Profis unter den drei Frauen aber wollten; und machten nun alles richtig. Sie zwangen Ellen Ott-Monecke, die Denunziation, die die beiden anderen verfassten, alleine zu unterschreiben. Und die Ex-Goebbels-Mitarbeiterin gab sie persönlich im Ministerium ab. Da wurde sie an die Gestapo weitergeleitet. Dann ging alles ganz schnell. Am 3. Mai wurde Kreiten in Heidelberg, kurz vor seinem Konzert dort, verhaftet. Nach 14 Tagen wurde er ins Gestapo-Gefängnis nach Berlin verbracht – und dort seiner Verräterin gegenübergestellt. Am 3. September wurde er zum Tode verurteilt, in der Nacht vom 7. auf 8. September hingerichtet.

Helga Schubert abschließend zur Reaktion der Judasfrau:

Nach einer Lesung im Jahr 1990, also nicht in der öffentlichen Diskussion in der Buchhandlung, nahm mich eine ältere Dame zur Seite und vertraute mir an, dass die Verräterin des jungen Pianisten Kreiten, die Freundin seiner Mutter, in ein brennendes Haus lief und dort verbrannte, als sie von seiner Hinrichtung erfahren hatte.

Hans-Jochen Luhmann.