Sehnsucht als Aggregatzustand von Liebe

 

Gerhard Marcel Martin, Sehnsucht leben. Erfahrungen und Konzepte, Kohlhammer 2022, 131 Seiten, 19,00 Euro.

Die Bayreuther Festspiele haben begonnen. Presse und Fernsehen gewähren ihnen Platz. Der Regisseur spricht von der Konzeption des aufgeführten Stückes Tristan und Isolde. Er hat es inszeniert mit dem Hintergrund, dass es etwas geben soll, was Raum für Sehnsucht schaffen will.

Sehnsucht scheint Konjunktur zu haben. Schon 2011 beschäftigte sich Margot Käßmann mit dem Thema Sehnsucht. Sie schrieb das Buch: Sehnsucht nach Leben und setzt sich mit 12 Sehnsüchten auseinander. Nun tut dies auch Gerhard Marcel Martin, Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg. Entstanden ist das Buch aufgrund eines Vortrages, den Martin 2017 auf einer Konferenz für Beratung, Therapie und Theologie zu halten hatte.

Er definiert Sehnsucht als ein Verlangen nach dem immer wieder Unerreichbaren (S.8). Für Lesende und die, die es werden wollen, seien Martins Vorüberlegungen genannt: Einmal weist er darauf hin, dass die einzelnen Kapitel in sich geschlossen sind und nicht nach der Reihenfolge des Abdruckes gelesen werden müssen. Zweitens rechtfertig er die vielen Zitate folgendermaßen:

„Aus meiner Sicht sind darum viele Zitate durchaus angemessen. Die Leistung des Autor besteht hier, jedenfalls auch, in der geschickten quasi prismatischen Zusammenfügung von Textpartien […]“ (S. 10)

Über die Begriffsbestimmung geht es zur Frage nach der Sehnsucht in der Bibel, dann kommt die Frage, ob Sehnsucht eine Sucht ist. Über Thomas von Aquin, der Sehnsucht mystisch interpretierte, geht es zur Sehnsucht bei Emmanuel Lévina und Jacques Lacan, zu Roland Barthes, Leonhard Cohnen, Bob Dylan und zum Thema: Gebet und Sehnsucht. Dann folgt der Epilog: Sehnsucht leben?

Das Buch endet: „Wenn ich Sehnsucht die leicht hysterische Schwester der Hoffnung genannt habe: Wie ließe sich im System familiärer Zuordnung […] das Verhältnis von Sehnsucht und Liebe bestimmen? Wie, wenn sich Sehnsucht […] als ein besonderer Aggregatzustand von Liebe verstehen ließe: weniger fest, eher flüssig, am ehesten wohl gasförmig oder plasmatisch?“

Dr. theol. Heiderose Gärtner-Schultz.