Werner Thiede: Sein wie Gott?

 

Für manche oder sogar für viele Menschen wäre es die große Botschaft zu wissen, dass man nach den Mühen des Lebens einschlafen darf, ohne je wieder erwachen zu müssen. Für andere und für die meisten Religionen geht es nach dem Tod irgendwie weiter. Beides hat auch im religiösen Raum seinen Platz.

Der Schweizer Pfarrer und Dichter Kurt Marti überschrieb eine Sammlung von Gedichten und Aphorismen „Heilige Vergänglichkeit“. Er erläutert das so: „Erwünscht wäre im Alter wahrscheinlich: Heilige Resignation. Noch besser ist allerdings womöglich dankbare Bejahung unserer Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt und deshalb ‚Heilige Vergänglichkeit‘.“ Das ist realistisch und zugleich mythologisch, indem es poetisch ist. Es entmythologisiert sich sozusagen selbst.

Eine sich durchaus evangelisch fühlende Dame schrieb mir zum Thema: „Der Gedanke eines ewigen Weiterlebens, in welcher Form auch immer, ist schon beängstigend. Ich sage in Trauerbriefen gerne: ‚Wir sollten ihm/ihr das Eingehen in den Frieden Gottes gönnen‘. Dass das Irdische, Beschwerliche aufhört, ist ein tröstlicher Gedanke. Das Spekulieren über das Danach verbietet sich für mich. Wir kommen nicht ohne Mythen aus, das ist sicher, kontrolliert durch die Vernunft.“

Alle Formen im Weltall sind vergänglich. Angefangen von den Galaxien über die Himmelskörper bis zu den Landschaftsformen und Gebirgen und weiter zu den Lebewesen, den großen wie den kleinen und auch den Menschen. Der Gedanke, der Mensch sei davon ausgenommen, kann seinem Wesen nach nur mythologisch sein. Im Raum der Natur gibt es Vergleiche nicht. Man kann die ewige Existenz zum Glaubensangebot machen, man kann den Gedanken aber auch als den Anspruch sehen, zu sein wie Gott. Also Frevel. Auch das ist freilich schon wieder eine mythologische Aussage.

Gerade ist ein Buch erschienen das die mythologische Seite des Problems darstellt und auslegt:

Werner Thiede, Unsterblichkeit der Seele? – Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage, LIT-Verlag, Berlin, 2021,265 Seiten, 24,90 Euro.

Für Thiede gibt es das Fragezeichen hinter dem Titel nicht. Er bekennt sich hoffnungsvoll zur Ewigkeit und legt diese Vorstellung in vielen Facetten und Aporien aus. Er geht ein auf die Literatur zu den Nahtoderfahrungen, schildert dann ausführlich Martin Luthers Haltung zum ewigen Leben. Dazu gehört die Vorstellung vom Seelenschlaf, mit dem der Tote die Zeit zwischen individuellem Tod und Auferstehung in einer neuen Welt überbrückt. Er geht dann auf die im 20. Jahrhundert aufgekommene Ganztodtheologie ein. Hintergrund dieser Theologie ist das Problem der kontinuierlichen Identität des Einzelnen. Da man in der Neuzeit schlecht davon ausgehen kann, dass die Identität durch die Knochen gewahrt wird, die zu gegebener Zeit wieder zusammengesetzt werden, bleibt nur die unsterbliche Seele. Dies ist aber ebenfalls für die christliche Theologie problematisch. Eine vom ganzen Menschen unabhängige Seele ist eine Vorstellung des Griechentums und vieler anderer Religionen, ist aber der Bibel fremd. Also kam man auf den Gedanken des Ganztodes. Das heißt, der Mensch ist wirklich ganz und gar tot und verschwunden. Er existiert nur weiter im Gedächtnis Gottes und wird aus diesem Gedächtnis in der Ewigkeit neu erschaffen. In der Ganztodtheologie gibt es einen sozusagen linken Flügel, der es beim Tod bewenden lässt und auf die Neuerschaffung in einer anderen Welt verzichtet.

In der schriftlichen Theologie ist dieser Gedanke eine Randerscheinung, im Glauben vieler Menschen und auch vieler Christen eher nicht. Die prominenteste Vertreterin dieser Theologie war die Theologin Dorothee Sölle. In einem Neuentwurf des Glaubensbekenntnisses schreibt sie über Jesus, dass er in unser Leben hinein auferstanden sei. Eine durchaus plastische Vorstellung.

Thiede selbst spricht von der Unsterblichkeit der Seele und deutet sie sehr allgemein als Kontinuität über die Diskontinuität des Todes. Auch die biblische Rede vom Gericht lässt er nicht aus, sieht das Gericht aber überstrahlt von der Botschaft der Gnade.

Wer auf der totalen Endlichkeit des Lebens besteht und trotzdem der christlichen Religion nah bleiben will, kann und muss deren Inhalt in der Aufgabe sehen, die Bilder von Gnade, Güte, und Gerechtigkeit immer wieder neu in der Welt zu verwirklichen. Anders als manchmal behauptet wird, bedarf die Ethik und das Gebot keines fernen Gottes, der dahinter steht. Sie steht in sich selbst. Die Überzeugungskraft der zehn Gebote hängt nicht davon ab, ob sie als Tafeln auf einem Berg übergeben worden sind. Die Bergpredigt bekommt ihre Kraft nicht dadurch, dass man Jesus für einen mythologischen Sohn Gottes hält. Die Gleichnisse Jesu und die ethischen Mahnungen des Neuen Testaments stehen ebenfalls in sich selbst. Der Satz Dostojewskijs in den Brüdern Karamasow, ohne Gott sei alles erlaubt, greift zu kurz. Denn der Mensch selbst erlaubt sich nicht alles, sondern steht im steten Widerspruch von Erlaubnis zu allem und dem eingrenzendem Widerstand der Ethik. Sigmund Freud spricht davon in seinem Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“. Das ist der Literatur wie dem gesunden Menschenverstand nicht fremd und gilt sowohl für das Gewebe der Psyche als auch für das Geflecht der Gesellschaft.

Thiede schließt sein Buch mit einem Epilog, indem er auf das manchmal beobachtete Lächeln auf dem Gesicht von Toten eingeht. Er deutet das vorsichtig als Zeichen eines Blicks in die Ewigkeit an der Grenze. Man kann es aber auch deuten als Erleichterung darüber, endlich einschlafen zu dürfen.

Es bleiben alle Fragen offen. Festzuhalten ist aber, dass die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft keineswegs notwendig mit dem Glauben an eine bewusste Ewigkeit anstatt eines ewigen Schlafes verbunden ist. Der Mensch hat sich mit einem Horizont umgeben, in dem ihm Gott in Wort und manchmal auch im Bild erscheint. Welche Wirklichkeit dahinter steht, kann offen bleiben.

In jedem Gebet, jeder Liturgie, jeder gelungenen Predigt und jeder Matthäus-Passion wird Gott hervorgebracht.

Dies spricht klar von einer anderen Wirklichkeit als der natürlichen und geschichtlichen. Man kann das Mythos nennen, man kann auch sagen, es sei eine Wirklichkeit eigener ontologischer Art, die unserem Erkennen verschlossen ist. Offen bleibt, was jeder damit macht.

Helmut Falkenstörfer.

Werner Thiede, „Unsterblichkeit der Seele? – Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“, LIT-Verlag, Berlin, 2021,265 Seiten, 24,90 Euro.