Der neu aufgeflammte Streit um deutsche Rüstungsexporte: Zeit für eine alternative Sichtweise

 

Die Ampel streitet über Rüstungsexporte. Und gerade die beiden Parteien mit dem stärkeren Pazifismus in ihrer Geschichte zeigen sich offen für eine Aufweichung der Bedingungen für Rüstungsexporte. Andererseits wurde die bisherige, formal restriktive Praxis bei der Genehmigung von Waffenausfuhren faktisch schon zunehmend aufgeweicht. Deutschland verzeichnet aktuell Rekordumsätze darin. Deshalb wird eine Alternative in Form einer Haftung für den Einsatz in Drittländern vorgeschlagen. Opfer illegitimer Gewalt beziehungsweise ihre Vertretungen aus der ganzen Welt sollen deutsche Rüstungsunternehmen dann hier verklagen dürfen, wenn Waffen dorthin geliefert wurden. Das würde eine wirkungsvolle Bremse für zukünftige Waffenexporte bedeuten und könnte Modell für andere Staaten werden.

Deutschland hat 2021 seine Waffenexporte drastisch steigern können. Der Wert betrug 9,35 Milliarden Euro statt 5,8 Milliarden Euro im Jahr davor. Das ist historischer Höchststand. Und der größte Teil davon ging nicht an etwa an Mitglieder der EU, der NATO oder diesen gleichgestellten Staaten (wie zum Beispiel der Schweiz). Sondern der wurde an sogenannte Drittländer geliefert. Eigentlich sollte laut den ‚Politischen Grundätzen‘ die Exportgenehmigung an allerlei Bedingungen geknüpft sein. Am bekanntesten ist die Nicht-Lieferung in Spannungsgebiete. Es gibt jedoch noch mehr davon. So ist im Rüstungsexportbericht 2021 zu lesen: „Die Beachtung der Menschenrechte ist für jede Exportentscheidung von hervorgehobener Bedeutung.“ Aber Papier ist geduldig. Alleine Ägypten erhielt in 2021 Rüstungsgüter in Höhe von 4,3 Milliarden Euro. Die Lage in diesem Land beschreibt Human Rights Watch so: „Die Menschenrechtslage in Ägypten ist momentan so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr… Jede Form von kritischer Meinungsäußerung, bringt einen in Gefahr, ins Gefängnis zu kommen. Folter ist weit verbreitet, vor allem von politischen Gefangenen, aber auch von normalen Leuten, die bei der Polizei landen.“ Dazu ist Ägypten militärisch in Libyen und dem Jemen aktiv. Deshalb hat die evangelische Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) auch Umfang, Struktur und Entwicklung bei den Rüstungsexporten kritisiert.

Der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht von der SPD langt das noch nicht. Sie möchte in Zukunft gerne die Vorschriften für deutsche Rüstungsexporte weiter lockern. Und sie verweist darauf, dass Waffenentwicklungen heute vorwiegend international vonstattengehen. Und dabei hat jedes beteiligte Land zumindest bisher ein Veto-Recht bei Exporten. In einer merkwürdigen sprachlichen Volte sieht sie Deutschland sogar „in einer Bringschuld: Bis heute machen wir solche Zusammenarbeit dadurch kompliziert, dass wir auf Sonderregeln beim Export von Rüstungsgütern beharren.“ Und sie legt sogar noch eins obendrauf: „Aber was bedeuten europäische Werte überhaupt, wenn wir unseren demokratischen Partnern sagen: Eure Moral reicht uns nicht?“ Auch das ist sehr apodiktisch ausgedrückt und trotzdem sachlich einfach falsch. Dass ‚demokratische Staaten mit europäischen Werten‘ ganz unterschiedliche Moral- und Rechts-Vorstellungen haben können, ist vielfach beobachtbar. Am einfachsten zu demonstrieren ist das an der völkerrechtswidrigen Invasion des Irak 2003. Der amerikanisch geführten ‚Koalition der Willigen‘ gehörten auf EU-Seite sechs Staaten an (auf der Basis der damaligen Mitgliedschaft): Dänemark, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Spanien. Nicht direkt beteiligt haben sich dagegen die neun Länder Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Luxemburg, Österreich, Schweden.

Frau Lambrechts Vorstoß ist sicher als Versuch zu werten, einmal die Wasser in der Öffentlichkeit und auch innerhalb der Ampel zu testen. In ihrem Gefolge hat sich prompt der für Exporte aller Art, darunter Rüstungsgüter, zuständige Wirtschaftsminister, Robert Habeck von den Grünen, gemeldet. Er will ebenfalls die Gründe für Waffenexporte nicht etwa einschränken, wie im Koalitionsvertrag eigentlich vereinbart, sondern erweitern. Denn, in neuerdings typischer Habeckscher Unbestimmtheit mit mehreren ‚unds‘: „einige Länder werden nun mal angegriffen und sind bedroht und verteidigen unsere Werte.“ Wenn sie denn so einfach wäre, die schöne Zweiteilung in hier die Angegriffen, dort die Angreifer. Hätte man etwa dem (theokratisch-diktatorisch regierten) Iran 1980-1988 Waffen liefern sollen, da dieser nun eindeutig vom Irak angegriffen wurde? Und was ist mit zeitlichen Veränderungen? In Mali zum Beispiel gab es bis 2021 eine gewählte Regierung, die mit regional-islamistischen Aufständen konfrontiert war. Also angegriffen/bedroht plus ‚unsere Werte‘, damals also in der neuen Habeckschen Weltsicht ein ziemlich eindeutiger Fall für Waffenlieferungen. Heute herrscht dort eine Militärregierung, mittlerweile unterstützt von russischen Söldnern, und die sogar die dort auf der Basis eines UN-Mandats stationierte Bundeswehr drangsaliert. Etwaige bis 2021 gelieferte deutschen Waffen wären aber immer noch im Besitz der malischen Armee.

Die Situation ist objektiv vertrackt. Man kann sich nämlich schon dem Gedanken anschließen, dass für moderne High-Tech-Waffen eine internationale Kooperation ökonomisch sinnvoll ist und auch, dass ‑ wie bei aller Produktion ‑ durch den Export erzielbare höhere Produktionszahlen den Stückpreis senken und so den hiesigen Steuerzahler finanziell entlasten. Man muss ehrlicherweise aber auch sehen, dass andererseits ‚Kosten‘ an anderer Stelle der Welt entstehen können, die wir dorthin mitexportieren. Diese Kosten können Menschenleben und Zerstörung sein, auch Länder mit ‚unsren Werten‘ verteidigen nicht immer, sondern greifen manchmal an (siehe Irak). Kosten können aber auch wegen Hochrüstung von Diktaturen unterlassene Aufstände trotz miserabler Lebensbedingungen sein (eine im Folgenden ausgeklammerte Problemlage).

Vielleicht hilft hier nur ein radikales Umdenken. Nämlich, dass wir wegen einer sich schnell wandelnden Welt und der politischen Unzuverlässigkeit unserer Regierungen in dieser Frage weniger auf eine Verschärfung formaler Bedingungen für Waffenexporte setzen sollten, sondern stärker auf eine nachträgliche Kompensation bei ‚falschem‘ Einsatz. Ich habe dafür schon vor Jahren argumentiert und einen praktischen Vorschlag dazu ausgearbeitet. Kurzgefasst bedeutet das im Kern Folgendes: Opfer von Waffen in Drittländern sollten in Zukunft vor deutschen Gerichten auf Entschädigung klagen können. Und bei internationalen Rüstungs-Kooperationen könnte in Zukunft vor etwaiger Export-Zustimmung Deutschlands zur Bedingung gemacht werden, dass diese ähnliche Gesetze in ihren Ländern verabschieden. Juristisch ist das nicht völliges Neuland. Es wäre eine Ausweitung des jetzt schon geltenden Weltrechtsprinzips, nach dem unter anderem in Deutschland bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verhandelt werden darf, auch wenn die Fälle außerhalb des hiesigen Staatsgebiets liegen und keine Staatsbürger:innen Beteiligte sind.

Natürlich müsste dazu eine ganze Reihe von Voraussetzungen getroffen werden. Es gehörte dazu ein präzises Verzeichnis gelieferter Waffen samt Hersteller. Und der Bundestag hätte Stellung zu nehmen, ob ein bestimmter Waffeneinsatz als legitim ‑ und damit klageverhindernd ‑ oder als eben illegitim anzusehen sei. Denn das kann letztlich nur politisch entschieden werden. Verbandsklagen wie im Umweltrecht müssten zulässig sein. Entschädigungen sollten sich an in Deutschland üblichen Sätzen orientieren, also ohne Dritt-Welt-Rabatt. Und es müsste vom Prinzip abgewichen werden, dass einem konkreten Opfer eine konkrete Tatwaffe zuzuordnen wäre. Stattdessen sollte eine prozentuale Mithaftung eingeführt werden. Auch das ist im Rechtswesen nicht ohne Vorbild. So haben niederländische Gerichte eine Weltfirma wie Shell dafür mitverantwortlich gemacht, den Klimawandel nicht ausreichend zu bremsen.

Konkret bedeutet Mithaftung in dem hier diskutierten Fall: Wenn deutsche Waffenexporteure beispielsweise Für 100 Millionen Euro Rüstungsgüter an einen Staat geliefert hatten, dessen internationale Waffenkäufe überschlägig insgesamt 800 Millionen Euro betrugen, und der durch Militäraktionen einen Entschädigungsfall von 1,6 Milliarden Euro zu verantworten hat, dann hafteten die deutschen Hersteller mit 200 Millionen Euro. Die Daten für den grenzüberschreitenden Waffenhandel können dabei heute schon vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI bezogen werden, das eine entsprechende Datenbasis zu ‚Arms Transfers‘ unterhält. Diese nutzen auch Organisationen der weiter aktiven Friedensbewegung, die konkrete Hersteller dem zuzuordnen versucht.

Mit einer solchen hier vorgeschlagenen Haftungsgefahr sähe in Zukunft die Kosten-Nutzen-Rechnung für Waffenexporte schon ganz anders als heute aus. Man wäre viel vorsichtiger bei Lieferungen an Autokratien und in potentielle Kriegsgebiete. Und seitens der Hersteller würde man sehr viel mehr darauf achten, dass nicht nur die Regierungen von heute, sondern auch die vielleicht ganz anders gelagerten von morgen und übermorgen als Risiko in der Kalkulation mitberücksichtigt werden. Und schließlich, wie so häufig, müsste ein Land nur vorangehen, um einen neuen juristischen Standard zu setzen, an dem bei Erfolg sich andere später orientieren könnten. Warum in diesem Fall nicht das im zwanzigsten Jahrhundert für zwei Weltkriege verantwortliche Deutschland?

Gerd Groezinger

Prof. Dr. Gerd Grözinger (i.R.), Sozial- und Bildungsökonomik, Europa-Universität Flensburg.