Das wachsende Ensemble der militärischen Bündnisse des Westens – wie August 1914?
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hat im August 1914 ihren Ausgang genommen. Das Geschehen wird gelegentlich so dargestellt: Es gab mehrere „Netze“ von Bündnisverpflichtungen. Das Deutsche Reich ließ dann fahrlässiger Weise zu, dass Österreich sich eine Schere schnappte, um da autonom hinein zu schneiden. Das katastrophale Geschehen habe sich daraufhin gleichsam automatisch ergeben, wie bei einem Netz, dessen Fäden aufgeribbelt werden.
Auch heute ist ein Besorgnis erregender Stand militärischer Bündnisverpflichtungen erreicht. Der ist im öffentlichen Bewusstsein erstaunlich wenig präsent, obwohl es im Ernstfall doch wieder um einen Blutzoll der wehrfähigen Generation gehen soll. Wie das Kaninchen auf die Schlange schaut, so wird immer nur die NATO in den Blick genommen, und da auch nur das politische Bündnis. Die verbreitete Meinung ist, mit dem berühmten Art. 5 NATO-Vertrag werde bei einem Angriff auf ein Mitglied gleichsam automatisch der Verteidigungsfall des Bündnisses ausgelöst, als ob mit dessen Anrufung alles getriggert werde. Doch schon die Vorstellung, dass die Türkei Griechenland angreift, könnte einen ins Grübeln stürzen. Aus dem tragischen Automatismus im August 1914 wurde schließlich gelernt. Insofern lohnt ein Blick auf die heutige Bündnissituation.
Ich folge hier einer Darstellung aus der Feder eines der versiertesten und zugleich gebildetsten Köpfe in der analytischen Sicherheitspolitik, des Franzosen Bruno Tertrais – und ich gestehe, dass ich, der ich meinte, mindestens das Bild der überlappenden Bündnisverpflichtungen in Europa einigermaßen vollständig vor Augen zu haben, bei der Lektüre überrascht war.
In Europa
Allein für Europa stellt sich das Bild der Bündnisverpflichtungen nach Tertrais wie in den folgenden drei (kursiv zitierten) Absätzen dar, der erste zum EU-Vertrag, der zweite zu bilateralen Bündnissen von einzelnen Mitgliedstaaten und der dritte zu den Unterschieden der Verpflichtungen auf den drei Ebenen (NATO; EU; bilateral):
- In addition, the Treaty of Lisbon (2007) commits EU members to collective defense through Article 42.7. This is inherited from the aforementioned Modified Brussels Treaty of 1954. While the obligation is generally considered secondary given that most concerned countries are members of NATO, Article 42.7 was nevertheless activated by France after the terrorist attacks of November 2015 in Paris. Contrary to NATO’s Article 5, the EU’s Article 42.7 does not require consensus: any EU country can invoke it to support an attacked member.
Dieser Absatz hebt durch Vergleich hervor: Art. 5 NATO-Vertrag hat nichts Mechanistisches an sich, welches an die desaströse Netz-Gesetzmäßigkeit von 1914 erinnert, wohl aber hat dies der Bündnis-Artikel im EU-Vertrag. Zu gewärtigen hat man zudem die unterschiedliche Überlappung beider Bündnisse: Im hypothetischen Fall eines Angriffs der innenpolitisch revanchistisch aufgestellten Türkei auf griechische Inseln ist die NATO mit ihrem Konsens-Prinzip gelähmt, während die EU-Staaten Griechenland zu Hilfe kommen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es zudem verstörend, dass die Debatte um die Aufnahme von Moldawien, Georgien und der Ukraine in die EU unter Absehung der bündnispolitischen Implikation geführt wird. Anders formuliert: Was sind das für nationale Öffentlichkeiten, welche der Ukraine z.B. Bündnissolidarität anbieten, ohne davon zu wissen? - Intra-European defense solidarity was further reinforced by two new bilateral defense clauses: one between Germany and France through the Aachen Treaty of 2019 (which includes a particularly strong mutual commitment), and another between Greece and France through a strategic partnership agreement signed in 2021.
Dieser Absatz besagt: Es gibt neuerdings eine Tendenz zu einer dritten-Puppen-in der Puppe-Ebene, zu EU-internen bilateralen militärischen Beistandspakten. Die umfassen auch einen größeren Bestand des „Staatsgebietes“ – relevant ist das im Falle der Ex-Kolonialmacht Frankreich mit ihren Besitzungen im pazifischen Raum (daneben in Südamerika). Die garantierte Schutzerstreckung des Bündnisgebietes wird so für Frankreich gegenüber der in Art. 42.7 erheblich erweitert. Deutschland ist Schutzverpflichtungen im pazifischen Raum eingegangen. - These countries are thus now protected by concentric circles of alliances resembling a set of matryoshka dolls. For countries that are members of both the European Union and NATO, Article 42.7 is a sort of “backstop” in case consensus could not be achieved within the North Atlantic Council (NAC) to trigger Article 5; and the France-Greece agreement is a backstop for Greece in case 42.7 could not be invoked.
Dieser Absatz besagt: Die Funktion der bis zu zweifachen Unterlegung einer Bündnisverpflichtung für dieselbe Staatenkonstellation ist eine „hilfsweise“-Garantie für den Fall, dass das übergeordnete (multilaterale) Bündnis im Ernstfall den erbetenen Schutz (zweimal) versagt. Insofern wird mit dieser nur scheinbaren Doppelung schon etwas kommuniziert, was explizit unsagbar ist: Man geht realistisch davon aus, dass Bündnis-Zusagen der kollektiven Verteidigung nicht blind zum Nennwert genommen werden dürfen; dass die eingangs erwähnte Netzmechanik, wie aus August 1914 bekannt, im Ernstfall doch nicht spielen könnte.
Zudem gibt es den folgenden Bestand: Die fünf Nordischen Staaten haben im Jahre 2009, außerhalb der NATO, einen gemeinsamen Rahmen für Verteidigungs-Kooperation (NORDEFCO) aufgesetzt. Drei von ihnen (Dänemark, Norwegen und Schweden) haben im September 2021 sich auf ein Statement of Intent für eine weitergehende operationelle Kooperation geeinigt. Besonders bemerkenswert ist der Vorgang, kurz vor der Invasion Russlands in die Ukraine, dass Großbritannien, Polen und Ukraine ankündigten, ein „new regional format of cooperation Ukraine-Poland-UK“ auflegen zu wollen.
Bündnis-Netz der NATO
Bislang ist der Fokus der Debatten auf den förmlichen Bestand der NATO und dessen Expansion gerichtet – im Maß formeller Mitgliedschaft ist sie im Zeitraum 1991 bis 2020 gewachsen um 14 Staaten – mit Finnland und Schweden wird die Verdoppelung erreicht. Übersehen wird dabei, dass dieses Wachstum nur ein Symptom des Wachstums von etwas Umfassenderem ist, das ist der generellen Bundesgenossenschaft mit dem Zentrum „USA“.
Wenig bekannt ist die Expansion der NATO jenseits der puren Mitgliedschaft. Das Wachstum fand statt in den beiden folgenden Dimensionen.
a) in Form von einer Erweiterung der Anlässe eines Bündnisfalls (could qualify as an armed attack and trigger Article 5), der gilt inzwischen auch für folgende Fälle:
- nicht-traditionelle Aggressionsformen (jenseits von Terrorismus),
- in der Cyber-Sphäre (2014) sowie
- “to, from, or within outer space” (2021)
und b) in Form eines Netzes von Sicherheits-Partnerschaften der NATO mit einer Vielzahl von Staaten:
- 15 “partners for peace”,
- 7 Mitglieder des Mittelmeer-Dialogs,
- 4 Golf-Staaten der Istanbul Cooperation Initiative, und schließlich
- 9 “partners across the globe”. Nicht nur Schweden und Finnland, auch die Ukraine und Georgien waren der NATO Response Force beigetreten.
Die NATO war vor dem Ukraine-Krieg zunehmend dabei, ihren „Sicherheitsschirm“, so die Sprechweise, über Europäische Nicht-NATO-Staaten auszubreiten. Der Ukraine-Krieg hat die Doppelbödigkeit dieser Sprechweise erwiesen.
Zudem gilt: Die NATO ist nicht nur weltweit das größte förmliche Bündnis gemessen in Mitgliedschaften, sie ist auch das einzige von zweien, das über ein permanentes militärisches Kommando verfügt (das andere ist das der ROK/US Combined Forces Korea).
Das Weben der USA an Bündnis-Netzen
Dass die USA dabei sind, im südostasiatischen/pazifischen Raum Bündnisse zu schmieden, soll hier nicht betrachtet werden. Hier soll es um anderes gehen. Überraschend ist vielleicht, von diesen beiden Vertiefungsvorhaben zu erfahren.
„… US lawmakers have asked the Biden Administration to consider an enlargement of the “Five Eyes” intelligence-sharing group (involving Australia, Canada, New Zealand, the United Kingdom, and the United States) to include South Korea, Japan, India, and Germany.“
Das gibt eine Vorstellung vom intendierten inneren Zirkel des globalen Bündnis-Netzwerk der USA.
„It is also noteworthy that the US nuclear umbrella has been discreetly expanded in the past decade. Since the Nuclear Posture Review of 2010, nuclear extended deterrence explicitly covers not only allies but also “partners” — a formulation kept deliberately vague. This shift was confirmed the 2018 Nuclear Posture Review. US nuclear weapons thus protect some fifty countries, or about one-quarter of the world’s total.“
Dazu liegen mir bislang keine weitergehenden Informationen vor.
Zusammenfassung
Tertrais fasst seine Tour d‘horizon mit der folgenden Feststellung zusammen.
„The US system of alliances is “unique in human history.” It is institutionalized like no other. A few years ago, a scholar calculated that US alliances covered some 25 percent of the world’s population and 75 percent of its gross domestic product.“
Damit deutet Tertrais an: Der Hegemon USA hat ein Bündnissystem einer Minderheit, und zwar der Reichen, geschaffen – die Überlappung mit demokratisch regierten Staatswesen, wenn sie denn eine valide Behauptung ist, ist des Nachdenkens wert. Ob ein so fokussiertes Bündnis überlebensfähig ist, ist zweifelhaft – denn die natürliche Reaktion ist, dass die Armen es ablehnen – und die haben die Mehrheit.
Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.
Die Analyse „Entangling Alliances? Europe, the United States, Asia, and the Risk of 1914“ von Bruno Tertrais steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.