Zum Umgang mit dem Revisionismus

 

Herfried Münklers Analysen zum gegenwärtigen Krieg in der und um die Ukraine sind ihrer Einordnungen wegen einzigartig und höchst lesenswert. Kürzlich ist ein Vortrag, den er an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat, in voller Länge publiziert worden (Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe Januar 2023). Daraus werden hier nur einige wenige Passagen hervorgehoben. Ziel ist, sie weiter zu denken.

Grundordnung seiner Gedankenführung ist die Unterteilung in revisionistische und saturierte staatliche Mächte; also eine Unterscheidung nach dynamischen Modi. Expansion oder Stillstand sind die treibenden Kräfte. Damit ist klar: Grund für einen Konflikt zwischen Territorialstaaten ist diejenige Macht, die Ansprüche territorialer Revision hat – es können auch zwei sein, was im Irak-Iran-Krieg schließlich Anlass für den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln durch den Angreifer war – eine ihrer heutigen Analogie wegen bedenkenswerte Begebenheit. Damit ist der saturierten Macht eine Aufgabe aufgezwungen. Es ist ihr verwehrt, einfach so für sich in Frieden vor sich hinzuleben.

Das Territoriale zu betonen ist wichtig, weil dadurch der Null-Summen-Spiel-Charakter eingeführt ist: Ein territorialer Gewinn kann immer nur gelingen, wenn er zugleich zum Verlust an Territorium für einen anderen Staat führt. Territorium ist in aller Regel nicht vermehrbar (Chinas Inselbau und Griechenlands artifizielle Besiedlung einer eigentlich aufgegebenen Insel mal außen vor gelassen.) Der Revanchismus ist im Prinzip im Territorialen angelegt.

Üblich ist in der Debatte die Ordnung nach Mächten, die sich an das Recht halten, und solchen, die das nicht tun. Demgegenüber hat Münklers Muster einen doppelten Vorteil.

  1. Damit ist vermieden, die „Ursache“ für Bewegung sofort bewerten zu müssen, über die rechtliche Bewertung dann auch moralisch. Dieser Sog wird sprachlich vermieden. Man kann so bei der nüchternen wertfreien kausalen Analyse eines typischen distanzierten Wissenschaftlers verbleiben.
  2. Revisionistische Tendenzen und Programmatiken sind weit im Voraus zu detektieren, sind sind ja offenbar, weil sie Mittel. Eines innenpolitischen Wettbewerbs sind. Rechtsverstöße hingegen sind erst im Nachhinein zu detektieren, wenn sie a) geschehen und b) anschließend nach den Ansprüchen des Rechts untersucht sind – das braucht Sorgfalt und Zeit. Für die Intention der Vorsorge für die eigene Sicherheit ist das ein wichtiger pragmatischer Unterschied.

Revisionistische Mächte in Europas Nachbarschaft – ihr Wesen und Entstehen

Münkler diagnostiziert einen Bogen von vier akut-revisionistischen Mächten, mehr oder minder in Nachbarschaft zum Schwarzen Meer. D.i. Azerbeidjan (stellvertretend auch für andere Akteure im Kaukasus), Russland, die Türkei und Serbien. Er definiert solche Staaten als Betreiber einer „neoimperialen Politik“, obwohl das mehr für die Großen zutrifft. Motiv, also Antrieb, ist die Kompensation eines Schmerzes aus Verlust, wie nach einer Amputation. „Imperialer Phantomschmerz“ sagt Münkler dazu. Getrieben wird die Innenpolitik solcher Staaten von der „Erinnerung an einstige Macht und Größe, an den Glanz früherer Zeiten, den man sich wieder verschaffen will.“ Auch die MAGA-Politik eines Donald Trump in den USA fällt darunter, mit der Besonderheit, dass sie nicht territorial revisionistisch ist – wenn auch intern sezessionistisch, insofern ist da schon ein territoriales Element drin.

Im Hintergrund der hier schwärenden Amputationen stehen überwiegend Ergebnisse aus der staatlichen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Da wurden die heute akut-revisionistischen Mächte geschaffen. Die Pariser Verträge werden somit fälschlich „Friedensschlüsse“ genannt – sie haben nicht den Frieden gebracht, sie haben vielmehr im Gegenteil dem Revanchismus in etlichen Regionen, in denen die überkommene Art der Besiedelung den klaren Nationalstaat nicht möglich machte, erst Nahrung gegeben. Das Phänomen gab es aber nicht allein dort, wo der Revanchismus heute noch oder wieder virulent ist.

Münkler erinnert auch an die damals geschaffenen, dann offen revisionistischen Nationalstaaten, die sich damals umgehend daran gemacht haben, sich ihren jeweiligen Traum von „Groß-X-Land“ zu erfüllen – der Traum vom „Großdeutschen Reich“ war kein Unikat. Das sind

  • Polen, welches in der Zwischenkriegszeit (1919 bis 1939) vier Kriege gegen die, übrigens 1922 gegen die historische zeitgenössische Tendenz nicht als Nationalstaat konzipierte Sowjetunion geführt hat;
  • Griechenland, welches den Frieden im Rahmen der Pariser Vorortverträge, den von Sèvres (1919), militärisch zu revidieren versuchte, dabei aber gegen die Türkei unterlag und sich mit dem schmerzlichen Ergebnis, welches dann im Frieden Lausanne (1923) von festgehalten wurde, einzurichten hatte.
  • Die Türkei unter Atatürk war eine erfolgreiche revisionistische Macht, indem sie ein zentrales Ergebnis des Friedens von Paris, einen kurdischen Nationalstaat, nicht akzeptierte und mit militärischer Gewalt unterband – unter den Augen französischer Truppen.
  • Italien, wiewohl Siegermacht des Ersten Weltkriegs mit weitreichenden Gebietszusagen im Londoner Vertrag (1915), seiner Eintrittsbedingung in den Krieg an Seiten der Entente, blieb unbefriedigt. Folglich war es weiterhin eine revisionistische Macht – was zu den fürchterlichen Ausgriffen nach Libyen (1923) und Äthiopien (1935) führte.
  • Ungarn war damals und ist bis heute eine mindestens latent revisionistische Macht, in der Folge des Vertrags von Trianon (1920), der als Friedensdiktat empfunden wurde und Ungarn um zwei Drittel des Territoriums des historischen Königreichs dezimierte.

Die Lehren daraus:

  • Mit den Pariser Friedensverträgen wurden revisionistische Staaten erst geschaffen – die Konsequenz daraus war, dass „Friedensverträge“ zu schließen seitdem lieber gemieden wurde; deshalb auch keine Bereitschaft, nach 1990 noch einen abschließenden Friedensvertrag für den Zweiten Weltkrieg zu schaffen.
  • Die außenpolitische Tendenz des akuten Revisionismus ist Widerspiegelung einer innenpolitischen Konkurrenz-Situation. Latent revisionistisch ist fast jeder Nationalstaat. Es gibt somit ein Risiko des offenen „Ausbruchs“. Ob und unter welchen Bedingungen der jeweilige Revisionismus aus seiner Latenz erweckt wird, sind die offenen Fragen.

Münkler geht darauf nicht systematisch ein. Amüsant und lehrreich zu der Struktur, um die es hier geht, ist aber die folgende, eher hingeworfene Bemerkung zu Russlands Revisionismus:

Allerdings ist nun, auch ohne dass es einen Friedensvertrag gegeben hätte, eine revisionistische Macht entstanden, nämlich mit dem Zerfall der Sowjetunion. Eigentlich war bereits am 31. Dezember 1991 klar, dass Russland ein revisionistischer Akteur werden würde. Nur weil das Land zu Beginn viel zu sehr mit sich beschäftigt war, begriff es dies selbst noch nicht.

Die Frage ist: Was „küsst“ den Revisionismus „wach“? Münklers anschließende Bemerkung, „es bedurfte … erst der berüchtigten Rede Putins im Jahr 2005, in der er sagte, der Zerfall der UdSSR sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Von diesem Zeitpunkt an war die Sache klar, da hatte Putin die Karten auf den Tisch gelegt: Russland ist auf Revisionen aus.“ ist nicht wirklich satisfaktionsfähig. Das ist sicherlich eine nur polemische Engführung.

Selbstverständlich gibt es nicht allein den innenpolitischen Anstoß, es gibt auch eine Wechselwirkung mit dem Außen eines Staates. Wäre es anders, so gäbe es keine erfolgversprechenden Strategien Dritter zum Umgang mit schwärendem Revisionismus eines befallenen Nationalstaates. Wie unter Personen wird man sagen können: Fehlende Wertschätzung im Umgang miteinander führt dazu, beim faktisch Unterprivilegierten underdog-Gefühle zum Wachsen zu bringen. Aber klar ist auch: Im Wesentlichen sind innenpolitische Kräfte verantwortlich, einen Nationalstaat davor zu bewahren, dass der immer angelegte Revisionismus aus der Latenz in die Phase der Manifestation switcht. Hier ist öffentliche Seelsorge gefragt. Die Medien sind in ihrer Verstärkerrolle massiver Teil des Problems.

Wie umgehen mit akut revisionistischen Staaten?

Strategien des Umgangs mit dieser bedrohlichen Tendenz von Nachbarn sind der interessanteste Teil des Münklerschen Vortrags – auch wenn er lediglich einen Einstieg zu dieser Thematik bietet.

Drei Strategien der „Pazifizierung“ reiht Münkler auf, nämlich durch:

  1. Wohlstandstransfer
  2. Appeasement
  3. Abschreckung

Seine Bemerkungen im Angesicht der aktuellen Debatten zum Einhalten des Ukraine-Krieges zu den Optionen b) und c) sind eher konventionell. Zum Appeasement sagt er, „München“ sei nicht das einzige Modell – aber selbst München zeige: Es bringe einen Zeitgewinn, der i.d.R. zum Aufrüsten für den nächsten Waffengang genutzt wird. Es gebe aber auch gelingendes Appeasement, und das habe meist die Gestalt eines Tausches „Territorium gegen Schweigen der Waffen“. Zur Option „Abschreckung“ weist Münkler darauf hin, dass diese sehr teuer sei für die saturierten Nachbarn. In demokratischen Gesellschaften sei sie deshalb antizipativ kaum möglich, die Bereitschaft zu einem solch hohen Ressourceneinsatz sei unter dieser Regierungsform erst erreichbar, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.

Bleibt die Option „Pazifizierung durch Wohlstandstransfer“. Definiert wird sie von Münkler so: „Man bindet die revisionistischen Mächte in eine Wirtschaft ein, die prosperiert, in der es den Leuten gut geht, sodass die Ressentiments, die Erinnerungen an die einstige „große Vergangenheit“, mehr und mehr an Bedeutung verlieren, bis man den gegenwärtigen Wohlstand höher schätzt als die historisierenden Narrative,“ wie sie von Populisten fortdauernd ins Spiel gebracht werden. Wohlstand hat somit eine amnisierende Funktion.

Die Aussichten der Strategie „Wohlstandstransfer“ in Zukunft

Wohlstandstransfer sieht Münkler für die EU als Mittel der Wahl in den zentralen Regionen der Krisenlinie Kaukasus, Türkei, Balkan. Das wird die EU einiges kosten. Man kann zwischen den Zeilen den Appell herauslesen, die EU möge sich die Pazifizierungsaufgabe insgesamt vor Augen stellen und darin ihre Strategie ihres Umgangs mit dem Konflikt um die Ukraine einbetten.

Hinsichtlich des Umgangs mit Russland bleibt bei dieser Option aber nur die rückblickende Analyse, warum sie zeitweise gelungen oder auch im Endergebnis misslungen ist. Münklers Antworten:

  1. Mit den Deutschen ist das Projekt der Pazifizierung durch Wohlstandstransfer im zweiten Anlauf, nach dem Desaster nach dem Ersten Weltkrieg, gut gelaufen. Die alte Bundesrepublik, die Bonner Republik, fuhr auf dieser Schiene. Nicht sogleich, denn bis Ende der 1960er Jahre spielten die Vertriebenenverbände mit ihren Rückkehrforderungen eine größere politische Rolle. Aber das veränderte sich zunehmend. Mit dem Antritt der Regierung Brandt-Scheel hatte der Revisionismus sich in Folklore verwandelt, zivilgesellschaftliche Gruppen hatten parallel den Ausgleich mit Polen vorbereitet.
  2. Warum gelang das Steinmeiersche Konzept, welches die Regierungen Merkel umsetzten, im Falle Russland nicht? Ein zentrales Problem seien die nicht zustande gekommenen Trickle down-Effekte gewesen, das fehlende Durchsickern der Wohlstandstransfers bis zur einfachen Bevölkerung. Viele der transferierten Gelder kamen vielmehr direkt bei den Oligarchen an, blieben dort hängen. Das habe uns im Westen nicht so furchtbar geärgert, bemerkt Münkler sarkastisch aber realitätsgesättigt, weil viele dieser Oligarchen hier unter anderem ihre Yachten haben bauen lassen. Dadurch wurden hier Arbeitsplätze geschaffen, während die Wohlstandseffekte bei großen Teilen der russischen Bevölkerung nicht ankamen. Das habe strategische Folgen gehabt: Putin konnte westliche Sanktionen, die westliche Wohltaten zurücknahmen, politisch in Kauf nehmen, da letztere das Leben der Menschen in Russland eh nicht sogleich und auch nicht grundlegend verändert hatten. Das ist eine Art von Analyse, wie ich sie von Ökonomen im Rahmen der Forschung zu den „Wirkungen von Sanktionen“ noch nicht gesehen habe.
  3. Mit Blick auf Afghanistan und die Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas lautet Münklers Versagens-Analyse: „In der islamischen Welt scheiterte die Strategie der pazi- fizierenden Transformation durch Wohlstandstransfer an der Versiegelung der Mentalität eines großen Teils der Bevölkerung durch die Religion. Das war und ist die politische Funktion des Islams, andere Werte zu setzen als die Mehrung des Wohlstandes. Die Religion hat verzögert, dass das globale und universelle Konzept des Westens wirksam geworden ist. Am Ende wurde es schlicht zu teuer und zu anstrengend; und die Hüter, sprich: vor allen Dingen die USA, waren überfordert.
    Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.