Der Kohleausstieg, das Stromsystem und das Symbol Nachfolge-Kraftwerk in Jänschwalde
Mit einer Entschließung vom 3. Juli 2020 sagt der Deutsche Bundestag erstmals: Gas ist nicht gleich Erdgas. Angesichts der Herausforderung, bis zum Jahr 2050 hundertprozentig klimaneutral zu sein, was auch für den Endenergieträger Gas gilt, sollen Gasinfrastrukturen und gasnutzende Anlagen heute so eingerichtet werden, dass ihre spätere Nutzung für andere Gasqualitäten, zuvörderst Wasserstoff, ohne großen Zusatzaufwand möglich wird. Die Politik baut vor gegen “stranded investments” der (Erd-)Gas-Wirtschaft beziehungsweise das darin liegende Erpressungspotential der Erdgaswirtschaft gegenüber der Politik.
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

In Deutschlands Politik spielt sich eine bemerkenswerte Auseinandersetzung ab. Anlass ist der Übergang von einer dominant auf fossilen Energieträgern basierenden Stromerzeugung zu einer aus erneuerbaren Quellen: der Kohleausstieg. Der seiner Substanz nach konzeptionelle Konflikt wird nicht als solcher offen geführt sondern subkutan. Gestritten wird nicht um das Konzept selbst, sondern um einzelne Kraftwerkstypen. Das vermischt sich dann mit Standortinteressen, einem Ost-West-Konflikt.
Die leitende Vorstellung ist populistisch getönt. Sie nimmt das Stromsystem – zu Recht – als etwas sehr Labiles. Diese Stabilität ergibt sich nicht von alleine, sie muss hergestellt werden. Vor diesem Hintergrund gilt in der populistisch getönten Vorstellung:
- Verbrennungskraftwerke sind sicher, weil zur Feuerung des Dampferzeugers Brennstoffe hineingegeben werden, wie der Bedarf es verlangt – das ist willkürlich möglich.
- Kraftwerke auf Basis erneuerbarer Quellen hingegen sind unsicher, weil sie in der Regel lediglich „Zappelstrom“ erzeugen und obendrein hilflos sind in der berüchtigten „Dunkelflaute“ – bei ihnen muss genommen werden, wie es kommt.
- Zwischen diesen beiden diametralen Optionen liegen die biogenen Brennstoffe – die sind erneuerbar und verbrennbar. Die werden gerne als Joker gezogen, begrifflich ist der Konflikt dann gelöst. Doch das gilt nicht generell, da lügt man sich in die eigene Tasche, vernachlässigt, dass sie sehr, sehr begrenzt nur zur Verfügung stehen.
Der stetige Ersatz von Verbrennungskraftwerken durch Erneuerbaren-Kraftwerke mache deshalb, so die Befürchtung, das Stromsystem immer labiler. Es befinde sich auf einer schiefen Ebene hin zum unausweichlichen Total-Blackout. Begonnen habe es mit dem Beschluss im Jahre 2011, die Kernkraftwerke, die ebenfalls Dampfkraftwerke sind, in Deutschland bis zum Jahre 2022 schrittweise abzuschalten. Am 3. Juli 2020 wurde beschlossen, dasselbe mit Kohlekraftwerken bis spätestens 2038 zu machen. Einen letzten Halt geben da nur Gaskraftwerke. Aber auch das kann nicht ewig halten, denn Erdgas ist nun einmal ebenfalls ein fossiler Energieträger, auch aus dessen Nutzung muss bis 2050 ausgestiegen worden sein – dann vollständig, zuvor also schrittweise auf Null hin.
So geht diese landläufige Vorstellung. Sie nimmt allein die Seite des Strom-Angebots in den Blick, also lässt das so wahrgenommene Geschehen in diesen Kreisen Alarmglocken läuten. „Es muss etwas geschehen“, ist die Haltung. Statt Konzepte zur Sicherheit des Stromsystems von Fachgesellschaften und -Institutionen wie ACER (Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden der EU Agency for the Cooperation of Energy Regulators) und CEER (unabhängiger Verband der europäischen Regulierungsbehörden Council of European Energy Regulators) zu diskutieren, wird einfach unterstellt, dass jegliches Konzept ohne große Verbrennungskraftwerke nicht aufgehen könne, das seien Wolkenkuckucksheime von wirklichkeitsfremden Intellektuellen. Man müsse selbst zur rettenden Tat durch Entscheidungen im Detail schreiten.
Die Erdgaswirtschaft steht am Rande und sieht es gerne. Es ist nun einmal so, dass bei einer Ersetzung der Erzeugung von Strom aus Kohle auf eine aus Erdgas, in modernen GuD-Kraftwerken, die CO2-Emissionen pro Kilowattstunde etwa um den Faktor Drei sinken. Das ist eine Minderung, eine Verbesserung, in einem spektakulärem Ausmaß. Die Erdgaswirtschaft verfügt über ein verführerisches Angebot. Es liegt so nahe, ihren Schalmeienklängen zu folgen, dieses Potential zu nutzen. In den USA hat der Umstieg von Kohle auf Erdgas in der Stromerzeugung zu einem Rückgang der CO2-Emissionen dieses Sektors in der Größenordnung von fast 1 Gt/a, innerhalb von nur fünf Jahren, geführt. Das ist ein regelrechter „Absturz“ der CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung – eine Gt/a entsprach vor wenigen Jahren noch in etwa den gesamten Emissionen Deutschlands. Doch zugleich ist klar:
Eine Minderung auf nur noch 30 Prozent ist nicht eine auf Null – die aber steht an. Jetzt noch groß in Erdgas-Kraftwerke zu investieren, dürfte sich als eine Fehlinvestition erweisen, wenn sie nicht einfach anppassbar sind an „klimaneutrales“ Gas. Wird nun in großem Umfang fehlinvestiert, mit Blick nur auf Ziele kurz vor der Nasenspitze, so gibt es später kein machbares „Heraus“ dazu, welches die gesetzten Termine korrekt respektiert. Das ist in der Gaswirtschaft Thema. Das weiß man, eben darauf setzt (auch) dieser Wirtschaftszweig, wenn er eine politische Strategie und Debatte befördert, die kein 2050-Ziel vor Augen hat.
Bei der Diesel-Technologie war es nicht anders, auch der Diesel war relativ klimafreundlicher als seine aktuellen Konkurrenten. Doch er bot keine Perspektive, durch Weiterentwicklung, also stetig, ohne Technologie und Infrastruktur-Bruch, auf Null zu kommen. Der Diesel war konzeptionell eine Investition in eine Sackgasse hinein. Die Dieselstrategie, welche insbesondere die deutschen PKW-Hersteller und die Gewerkschaften hier verfolgten, konnte wirtschaftlich nur aufgehen, sofern die Politik ihre Klimapolitik als Industriepolitik nicht ernst nahm. Das Dieseldrama, so zeichnet sich ab, droht sich als Erdgas-Drama zu wiederholen.
Stand der Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern
Bekanntlich ist es im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Braunkohlenutzung zu einem scharf ausgetragenen Konflikt zwischen Bundesregierung und Bundesrat gekommen – hinter der Position des Bundesrates dürften die ostdeutschen Länder stehen. Die Bundesregierung hatte bei dem Treffen zwischen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Kohle-Länder am 15. Januar 2020 zugesagt, „zusätzliche Gaskraftwerkskapazitäten“ zu schaffen und damit „den Wegfall großer Mengen regelbarer Energie an bisherigen Kraftwerksstandorten <zu> ersetzen“ – und hatte dann hinzugefügt „zum Beispiel in Jänschwalde.“
Als der Bund dann das Gesetzgebungspaket zum Kohleausstiegs vorgelegt hatte, suchten die Vertreter der Länder vergeblich nach der Umsetzung dieses Versprechens. Im Rahmen der Beratungen zum Kohleausstiegsgesetz hat der Bundesrat deshalb versucht, erhebliche Veränderungen am Entwurf der Bundesregierung zu erreichen. Seine Forderung lautete:
„Zur Umsetzung der Bund-Länder-Einigung zum Kohleausstieg vom 15. Januar 2020 wird die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich die geeigneten Rahmenbedingungen für den Neubau und den Betrieb von Gaskraftwerken an bestehenden und vom Kohleausstieg betroffenen Standorten zu schaffen.“
Woraufhin die Bundesregierung nur lapidar geantwortet hat: Ist alles bereits enthalten.
Diesen Konflikt hat nun der Deutsche Bundestag, faktisch die Regierungskoalition, mittels einer „Entschließung“ aus Anlass der letzten Beratungsrunde des Kohleausstiegsgesetzes am 3. Juli 2020 gelöst und befriedet. Mittel sind Formulierungen, die Zusagen an die östlichen Bundesländer und faktisch Aufträge an die Bundesregierung darstellen, die sie tragen. Im Wortlaut:
„Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass Deutschland aus Gründen der Versorgungssicherheit und Netzstabilität weiterhin auf steuerbare Stromerzeugungsanlagen angewiesen ist. Um hierfür eine bereits vorhandene Infrastruktur wie Dampfturbinen, Generatoren, Netzanbindungen sowie die erforderliche Logistik für den Brennstofftransport nutzen zu können, erscheint es sinnvoll, bestehende Kohlekraftwerke so zu modernisieren, dass ein flexibler und hocheffizienter Weiterbetrieb auf Basis anderer Brennstoffe möglich ist. Die zum Einsatz kommende Kraftwerkstechnik sollte jedoch so ausgelegt sein, dass sie dem langfristigen Ziel der Treibhausgasneutralität 2050 dient, beispielsweise indem die Anlagen von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt werden können oder indem nachhaltige Biomasse zum Einsatz kommt. Entscheidend ist auch, dass die Anlagen sich in einen Strommarkt mit wachsenden Anteilen volatiler Stromerzeugung aus Wind- und Solaranlagen einfügen können. Hierfür ist eine flexible Fahrweise erforderlich. Speichertechnologien und Elektrolysemöglichkeiten können dies unterstützen.“
Damit ist gesagt:
- Es sollen Dampfkraftwerke sein, nur so kann man bestehende „Dampfturbinen“ und „Generatoren“ weiterhin nutzen.
- Es sollen bestehende Kohlekraftwerke in diesem Sinne umgerüstet werden – somit Großkraftwerke.
- Es wird dann auch, beispielhaft, gesagt, dass dies im ersten Umstellungsschritt Erdgaskraftwerke sein sollen – die aber sollen von vorneherein so ausgelegt sein, dass deren spätere Umstellung auf Wasserstoff unaufwändig möglich ist.
Das scheint mir weitsichtig und ein Durchbruch in der Debatte zu sein. Erstmals lese ich ein Dokument, in dem gesagt wird: Gas ist nicht gleich Erdgas. Angesichts der Herausforderung, bis 2050 zu 100 Prozent klimaneutral zu sein, was auch für den Endenergieträger Gas gilt, sollen Gasinfrastrukturen und gasnutzende Anlagen heute so eingerichtet werden, dass ihre spätere Nutzung für andere Gasqualitäten, zuvörderst Wasserstoff, ohne großen Zusatzaufwand möglich wird. Die Politik baut vor gegen „stranded investments“ der (Erd-)Gas-Wirtschaft beziehungsweise gegen das Erpressungspotential, dieses, also „investments“, die auf Grund zu laufen drohen, später zu vermeiden – das droht die Erdgaswirtschaft gegenüber der Politik in die Hand zu nehmen.