Szenarien eines kommenden Krieges – aus der Geschichte lernen!

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Europa richtet sich neu ein, um auf wahrgenommene Bedrohungen militärisch reagieren zu können. Ein kluger Beobachter hat die Tendenzen dabei sortiert, weit mehr frank und frei formuliert, als es offiziell denkbar ist:

„The answer has to be: a network of core groups, which are constituted on the basis of a comparable will to act and backed up by their military capabilities. A group with France and the UK as the core for high-intensity interventions outside Europe would be a logical formation. Other countries can hook on to, e.g., the British JEF or to French rapidly deployable capabilities. One could imagine another group with Germany and Poland providing the core for heavy land forces, needed for NATO’s territorial defence as a follow-on force to the Alliance’s rapidly deployable capabilities (the NATO Response Force). A third core group (led by Italy?) could concentrate on support to border security and stabilisation operations – for which countries not willing to engage in high-intensity operations should make extra efforts.“

Aus dieser Beobachtung hebe ich Dreierlei hervor:

  • Die Meinung ist, dass Europa drei „Fronten“ zu gewärtigen habe und sich einen Drei-Fronten-Kampf auch leisten könne. Das unterstellt einen fehlenden Imperativ für Priorisierung, was nach meinem Urteil nicht selbstverständlich ist.
  • Die Akzeptanz der sicherheitspolitischen Notwendigkeit von „high-intensity interventions outside Europe“ – die Motive dahinter sind nicht offenkundig und der Effekt auf die Sicherheit Europas ist nicht wirklich offensichtlich. Ich erinnere an die Offenbarung Frankreichs strategischer Interventionsziele für Nordwest-Afrika, die den Hintergrund seines massiven Drängens auf eine Libyen-Intervention mit UN-Mandat bildeten – wie in meiner Analyse des Berichts des britischen Oberhauses hervorgehoben.
  • Die umstandslose Unterstellung von Solidarität, unabhängig von massiver Dissoziation, zum Ausdruck gebracht durch den Brexit einerseits und durch Polens Abschied von den Grundwerten des Europa-Rates, von Gewaltenteilung und Rechtsstaat, andererseits.

Noch gräusliger ist der Gedanke, auf welcher Erinnerungs-Basis die entscheidenden Personen sich die Führung eines nächsten Krieges in den Grundzügen vorstellen. Von Hitler wird vermutet, dass es die jugendliche Lektüre von Lederstrumpf et al. gewesen sei, die damals noch nicht als jugendfrei zusammengestrichenen Darstellungen der Feldzüge der Neusiedler gegen die Ureinwohner Nordamerikas, mit klarer Ausrottungs-, also Genozidabsicht …

Vor diesem Hintergrund lohnt es, darüber nachzudenken, auf Basis welcher Kriegsszenarien heute gehandelt wird. Diese Szenarien können entweder historisch informiert sein; oder sie sind destilliert aus drei aktuellen Elementen:

  • aus einem qua Projektion gewonnenen Feindbild,
  • gemixt mit ein wenig Psychologie des jeweiligen Führers sowie
  • einer Analyse dessen militärischer Möglichkeiten.

Fast alle heute leitenden Kriegsszenarien sind nur wenig explizit und suchen Anschluss an die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, an den Ausbruch des Ersten oder Zweiten Weltkrieges. Beiden Kriegen ist gemeinsam, dass ein regionaler Konflikt, militärisch ausgetragen, so aufgeladen wurde, dass die großen Schutzmächte meinten, darauf eintreten zu müssen. So wurde aus einem regionalen kriegerischen Konflikt je ein „Weltkrieg“. Damals je ein bipolarer.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Heute ist mit dem Aufstieg Chinas die Ausgangskonstellation eine andere. Die Situation ist (bislang) tripolar. Ob ein tripolarer globaler militärisch ausgetragener Konflikt möglich ist, ist eigentlich unwahrscheinlich, weil die elementare Konfliktlogik dual ist. Das die Dualität erzeugende Grundmotto lautet eben: Der Feind meines Feindes ist mein Freund – tertium non datur.

Spaltet sich, wie es scheint, die transatlantische Allianz, so haben wir alsbald eine quattro-polare Weltordnung – aber auch die wird sich im Falle eines militärischen Großkonflikts zu einer binären Gegnerschaftskonstellation zusammenschnurren lassen.

Das Modell des Zweiten Weltkrieges

Ein Krieg beginnt in aller Regel mit einem regionalen Gewaltschlag. Anlass dafür ist häufig eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die zu Gewalttätigkeiten führt. Geht das dann so weit, dass jener Staat, auf dessen Boden das stattfindet, sein Gewaltmonopol nicht durchzusetzen vermag, tritt in diese Lücke eine äußere Macht, die sich als Schutzmacht verpflichtet sieht. Was zum Zweiten Weltkrieg führte, begann nach diesem Schematismus geurteilt im Jahr 1938 – mit der Ablösung des Sudetenlandes zum Deutschen Reich und weiterer Gebiete an Polen.

Zum Weltkrieg mutierte dieser Krieg explizit im Jahre 1941, mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni und den Eskalationen in Form und nach Japans Überfall auf Pearl Harbor im Dezember. Implizit war er es schon längst zuvor. Seit Hitlers Bruch des „Münchner Abkommens“ war klar, dass auf sein Wort kein Verlass war, Verabredungen nur nach Hitlers Sturz mehr möglich seien. Seitdem bereiteten sich auch die USA auf die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens vor, gegen die Haltung ihrer Bevölkerung, auf Basis eines von beiden Parteien getragenen Eliten-Konsenses.

Dieser Krieg ist, von 1918 her gesehen, zunächst ein Krieg mit klar revanchistischer Zielsetzung gewesen, geführt von einer auf Expansion hin eingestellten Macht (Deutschland). Er wurde dann in eine territoriale Großexpansion umgewandelt. Ab Juni 1941 war er zudem genozidal, als Vernichtungskrieg, angelegt – wohl nach dem Vorbild der Expansion der weißen Siedler in den USA. Ziel im Osten war, die neu angeeigneten Territorien mit eigenen „Volksgenossen“ zu besiedeln, nicht die Beherrschung bestehender Ökonomien inklusive ihrer Arbeitskraft. Letzteres war lediglich das Konzept im Westen und im Norden.

Die ökonomisch rätselhafte Haltung, die Bevölkerung in den östlichen Räumen selbst als Arbeitskraft nicht als Wert zu verstehen und sie also zu vernichten, ist kaum erklärbar. Es fällt schwer, sich als Vorbild etwas anderes vorzustellen als die als Genozid organisierten Eroberungszüge weißer Siedler in Nordamerika, aber auch in Südamerika, im 18. und 19. Jahrhundert.

 

Abbild heute

Für viele Analysten heute ist am Zweiten Weltkrieg das revanchistische und das territorial-expansive Moment modellhaft – das genozidale (hoffentlich) nicht mehr. Das heutige Verhalten beziehungsweise die heutige Intention Russlands wird vielfach in diesen Kategorien interpretiert. Die herrschende und für die Rüstungsplanung in Europa entscheidende Meinung ist, Russland wolle territorial expandieren, es wolle einige der durch das Auseinanderfallen der Sowjetunion „verlorenen“ Gebiete wieder in seinen Staatsverband einverleiben. Was das ökonomisch bringen soll, ist jedoch so wenig verstehbar wie die Ökonomie des Hitlerschen Ausrottungskrieges gen Osten. Jedenfalls gibt es von dieser Meinung zwei Versionen:

  • die im Ausgreifen bescheidene Version, die als reiner Revanchismus zu charakterisieren wäre;
  • die weitausgreifende Version, nach der die Westgrenze der Visegrad-Staaten, also die Wiederherstellung des territorialen Bestands des damaligen Warschauer Pakts, die intendierte zukünftige Westgrenze nun Russlands sein solle.

Revanchistischen Charakters ist das ausgreifende Szenario auch deshalb, weil es die Revanche für das Verhalten des Westens in der Wild-West-Zeit in Moskau darstellt, unter Jelzin, welches die Aufspaltung der Sowjetunion zur Folge hatte. Komplementär in einem solchen Szenario vorzustellen hat man sich auf Seiten des Westens eine ökonomisch darniederliegende USA, die wegen mangelnder Professionalität in der Ausübung der Herrschaft in Washington seit Januar 2017 in eine ähnlich elementare Staatskrise und in der Folge ökonomische Krise geraten wird wie die Sowjetunion unter Jelzin. Das Legitimationsmittel und die Ausgangssituation wird auch in diesem Szenario die Unterstützung bei einem Konflikt von Bevölkerungsgruppen sein, in diesem Falle in Litauen und/oder Estland.

Aus russischer Sicht macht das alles strategisch und ökonomisch kalkuliert wenig Sinn. Zweifelsfrei realistisch daran ist lediglich die Annahme des Auslösers. Im Baltikum liegt gleichsam alles bereit, wessen es bedarf, um einen Einmarsch von Schutztruppen zu initiieren und zu legitimieren. In Litauen und Estland gibt es je russisch sprechende Minderheiten in der Größenordnung von 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung – nur etwa die Hälfte davon ist jedoch als Bürger der beiden Staaten anerkannt. Und es besteht der Anschein, dass auf Ebene der Schutzmächte beide Seiten sich auf ein solches Szenario vorbereiten.

Russland hat erhebliche Truppen in der Großregion östlich der baltischen Staaten stationiert. Dagegen sind die dortigen Truppen, inklusive der jüngst stationierten der Großmacht-NATO-Staaten, hoffnungslos unterlegen, zudem sind sie leicht von jeglichem Nachschub abzuschneiden. Militärisch ist die Situation dort, wenn Russland entsprechende Absichten hegt, nicht zu halten:

According to a recent RAND study, Russia could, at short notice, assemble from its Western Military District, including the Kaliningrad Oblast, 25 maneuver battalions for offensive operations in the Baltic region. They would be supported by ten artillery and six attack helicopter battalions and approximately 27 air combat squadrons. In addition, two Iskander and three Tochka short-range ballistic missile battalions are available. The study concludes that the Russian army corps is capable of winning a combined arms battle in the region and taking Riga and Tallinn within three days after launching offensive operations. Thus, Russia would be capable of confronting NATO with a fait accompli and “unpleasant choices”.“ (S. 4)

Ein Drohpotential, welches Russland gegebenenfalls, trotz entsprechenden Wollens, abschrecken könnte, ist allein die Aussicht auf eine militärische Eskalation anderswo, nach Wahl eines NATO-Partners; oder beziehungsweise auch eine ökonomische Eskalation. Das aber erfordert eine entsprechende Bereitschaft der westlichen Schutzmächte Litauens und Estlands. Die EU ist dazu wohl ökonomisch, nicht aber militärisch in der Lage. Bleiben die beidseits potenten USA – wenn die denn willens und vor allem weiterhin in der Lage sind.

Angenommen, sie seien dazu in der Lage. Dann ist das im Vorhinein Unkalkulierbare nur noch ihr Wille. Das aber ist ein Problem, welches in solchen Situationen für die Untermächte immer besteht, die Überführung von „reassurance“ in „engagement“ seitens der Großen Schutzmacht. Das kann man prototypisch bei der Überführung der Konflikte im Juli/August 1914 in einen Weltkrieg ablesen.

Das Modell des Ersten Weltkrieges

Die Situation vor 1914 war charakterisiert durch den absehbaren Niedergang von zwei ehemaligen großen Mächten, des Osmanischen Reiches sowie Österreich-Ungarns. Auf die dadurch absehbar zur Neubesetzung freiwerdenden Territorien waren die beiden expansiven Mächte in Europa aus, Russland und Deutschland. Hinsichtlich der Trümmer des Osmanischen Reiches handelte es sich auch um einen Konflikt in der kolonialen Sphäre, also mit Involvierung von Großbritannien, der Status-quo-Macht. Aber auch die bislang beherrschten Völker hatten ihrerseits Selbstständigkeitsambitionen, so Serbien.

Der Beginn dessen, was innerhalb weniger Tage zum Krieg aller europäischen Mächte eskalierte, war ein gewaltsamer Akt im Rahmen des Sezessions-Konflikts Serbien vs. k.u.k.-Monarchie. Österreich-Ungarn wollte, so das formale Argument, den Untersuchungsanspruch nach dem Attentat vom 28. Juni 1914 per Krieg gegen Serbien durchsetzen, faktisch wollte es die Gelegenheit nutzen, Serbien zu deckeln. Das löste die formalisierten Bündnisabsprachen unter den Schutzmächten wie beim Domino aus. Da Deutschland, so seine militärische Planung (Schlieffen-Plan), sich nur mittels eines frühen und überraschenden Erstschlags gegen Frankreich, unter Verletzung der Neutralität Belgiens, einen militärischen Erfolg ausgerechnet hatte, konnte es nicht politisch pokern, sondern sah sich zum sofortigen Vollzug des Krieges gezwungen. Anscheinend zur Überraschung seiner politischen Führung – ein schweres Kommunikationsversagen. Der Übertritt Deutschlands vom Modus der „reassurance“ (Anfang Juli) zum „engagement“ (Anfang August) fand hier in wenigen Wochen statt. Bei Russland hinsichtlich Serbien und Frankreich lief ein ähnlich rapides Szenario ab.

Abbild heute

Ich ende mit einem historisch inspirierten Szenario eines sehr klugen Zeitgenossen, François Heisbourg. Anlass für sein Szenario ist das Ergebnis seiner Suche, mit welcher historischen Person der heutige US-Präsident vergleichbar wäre. Er kommt dabei, wie andere auch schon, auf den letzten deutschen Kaiser mit seiner verkorksten Mutter-Beziehung und der daraus erwachsenen Unstetigkeit und Unberechenbarkeit – wer den in seiner Zeit veranschaulicht haben will, der greife zum Einleitungskapitel von Barbara Tuchmans wunderbarem Buch „August 1914“. Heisbourgs Klugheit drückt sich auch aus in der methodischen Vorbemerkung zu seinem Analog-Szenario: „Even a robust analogy has its limits. But a weak analogy may still have virtue if it prompts thought.“

Wie es heute, in einer „disorderly world, riven by rivalries between revisionist and status quo powers, against the backdrop of institutional confusion in a Trump-shocked Washington DC“, erneut zur maximalen Extensionsstufe eines Gewaltaustrags kommen kann, liest sich wie folgt:

The final extension suggested here is that the Middle East contains the potential for generating the kind of wars (initially regional, subsequently global) which began in the Balkans during Wilhelm II’s reign. A major but declining power, Austria–Hungary, seizes on a real provocation (the murder of Archduke Franz Ferdinand and his wife) to cut down to size, as soon as possible, a threatening upstart (Serbia) thanks to a blank cheque from a powerful ally (Germany): in the merest of nutshells, this is how the First World War began. In the Middle East today, perhaps, a major power (Saudi Arabia) doing poorly on all fronts (Syria, Iraq, Yemen) feels threatened by a resurgent power (Iran) and seizes on a provocation to lock its American ally into war.

This does not pretend to be a prediction, even if it is a serious worry. But it is a reasonable description …

So könnte es kommen: Wenn die USA, gegen Iran, dann auch Russland, dann Beistandsverpflichtung EU-Europas für die USA, gegen Russland; und so weiter … – es könnte aber auch ganz anders kommen, totaliter aliter. Schwierig, auf dieser Basis kluge Rüstungsentscheidungen zu fällen.

 

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>