Die Ukraine vor einer erneuten Revolution. Der Staatspräsident sucht auf Druck des Westens das Verfassungsgericht abzusetzen.

 

Die Maidan-Revolution in den Tagen vom 20. bis 22. Februar 2014 hat die Ukraine mit ihrer speziellen politischen und wirtschaftlichen Kultur in das Lager des Westens gebracht. Eine „Revolution“ ist ein Vorgang, bei dem das geltende Verfahrensrecht suspendiert ist. Das steht dieser Tage erneut an. Der Präsident der Ukraine verlangt die Entlassung der Verfassungsrichter in toto. Motiv ist der Vollzug der Anti-Korruptionsstrategie, welche der Westen dem Staat auferlegt hat. Die „Rule of Law“-Verteidiger eben dieses Westens aber stellen sich dagegen, die Venedig-Kommission des Europarates und dessen Anti-Korruptions-Einheit GRECO stellen sich auf die Seite des Korruption verteidigenden Verfassungsgerichts der Ukraine. Ihr Argument: Der Kampf gegen die Korruption dürfe nicht mittels eines Bruchs der Verfassung geführt werden. Also die bekannte Konfliktlinie: Form gegen Inhalt.

Die genannte „spezielle Kultur“ ist nicht wirklich Ukraine-spezifisch, sie ist dort aber habituell tief verankert. Es ist eine Kultur der Korruption, politisch wird sie abgesichert durch Korruption der politischen Institutionen. Die Bürger mögen bei Wahlen Parteien wählen wie sie wollen, letztlich bilden sich in der Legislative immer „Fraktionen“ nicht gemäß dem Wahlergebnis und dem Wählerauftrag sondern gemäß finanzierenden Oligarchen. Letztlich abgesichert wird damit eine Beherrschung der Strafverfolgungsbehörden – das wiederum wird abgesichert durch Beteiligung des obersten Gerichtswesens an den Früchten der Korruption, also durch Sicherung einer Klassenjustiz. An der Weise, unter welchen Bedingungen Mitglieder Oberster Gerichte oder die Chefs der Strafverfolgungsbehörden privat residieren, ist für jedermann in der Ukraine erkennbar, wie das Recht gehandhabt wird: Es ist käuflich. Anders ist der Lebensstil dieser Mitglieder der herrschenden Klasse nicht erklärbar.

Die Oligarchen in der Ukraine symbolisieren das dortige System der Einkommensgenerierung qua Abschöpfung, aber sie sind nur dessen Spitze – der Polit-Star der EVP-Familie, Julija Tymoschenko, gehört zu dieser Kaste genauso dazu wie der erste gewählte Präsident nach der Revolution, Petro Poroschenko. Wer zu dieser Kaste gehört, hat einen ersten Wohnsitz im Ausland, für die „Not“, auch zur Vermögenssicherung – und das in Gaststaaten, die hinsichtlich ihres Umgangs mit Geldwäsche einen entsprechenden Leumund haben.

Russland hatte dieses System lange mittels Begünstigungen in Import-Gasverträgen und staatlichen Krediten durchgetragen. Als Russland diesen Staat mit seiner speziellen Kultur im März 2014 an den Westen abgab, hat Putin in einem Brief an die westlichen Staatschefs ihnen gleichsam viel Glück bei der nun ihnen übergebenen Aufgabe der Begrenzung der Fremdalimentierung gewünscht. Er wusste, wovon er sprach.

Der Westen hat damals übernommen. Die „Kredite“ genannte finanzielle Dauerunterstützung vergab seitdem die EU im Verbund mit dem IMF. Die Tranchen wurden jeweils nicht bedingungslos gegeben sondern im Tausch gegen Reformverpflichtungen auf dem Weg zu einer Rechtsordnung, die der grassierenden Korruption ein Ende bereiten sollte. Begleitet wurde das vor Ort von den Botschaftern der G7-Staaten in Kiew – und natürlich von den Geldgebern selbst, der EU und dem IMF. Der Reformweg beinhaltete Dreierlei, so das Konzept, welches der Westen unterstützte:

  • neue Gesetzestatbestände,
  • Aufbau von neuen Institutionen (eine spezialisierte Strafverfolgungsbehörde und ein spezialisiertes Gericht) und
  • Aufbau eines unbelasteten Personalstamms für diese neuen Institutionen zur Korruptionsbekämpfung.

Das Reformvorhaben brauchte Zeit. Solange finanzierte der Westen, gleichsam auf Zukunft hin, im hoffnungsvollen Vertrauen, die Außenhandels-Defizite der ukrainische Wirtschaft, insbesondere auch die Kassendefizite im staatlichen Haushalt. Der Kampf des Westens gegen die Pipeline Nord Stream 2 wurde offen mit dem Ziel geführt, der Ukraine mit dem Pipeline-System auf ihrem Territorium ihre Knappheitssituation zu prolongieren, auf dass sie weiterhin marktferne Monopolrenten zur Haushaltsstützung abschöpfen können sollte. IMF und EU vergaben „Kredite“, wohl wissend, dass diese Außenstände eines späteren Tages abzuschreiben sein würden. Deren Volumen wuchs und wuchs mit den Jahren. Die EU tat ein zweites „Zuckerbrot“ hinzu, die Visumfreiheit für ukrainische Bürger.

Die Performanz des Präsidenten Poroschenko in der Anti-Korruptionspolitik, seine Abstützung auf den mit ihm seit langem privat intim verbandelten Generalstaatsanwalt Lutsenko und vor allem die verweigerte Neubesetzung der Richterstellen am Verfassungsgericht, ließ schon länger fragen, weshalb der Westen das unkommentiert hinnahm. Das Konzept des Westens mit den genannten drei Schritten, die Abtrennung und Errichtung einer auf Korruption spezialisierten Säule innerhalb der ukrainischen Justiz, hatte nämlich selbstverständlich eine Achillesferse: All das unterstand weiterhin dem ukrainischen Verfassungsgericht mit seinem offenkundig von der Korruption profitierenden Personal – die Spitzen des Korruptionssystems in der Ukraine hatten eine formidable Verteidigungslinie, von der aus sie in Ruhe über Jahre zuschauen konnten, wie der Westen ihr System mit einem mehrstelligen Milliardenbetrag alimentierte. Ausgerechnet dieses ließ Poroschenko im Amt, vom Westen unbehelligt.

Nun aber, seit 2019, ist unabänderlich die Zeit gekommen, die Ernte einzufahren – beziehungsweise die Zeit des Endkampfes. Da passiert Viererlei.

  1. Die jetzige Regierung der USA, unter dem seinerseits in seinen Geldgeschäften äußerst zwielichtigen Präsidenten, zeigte, dass ihr das westliche Anliegen, die Ukraine aus dem Korruptionssumpf zu befreien, völlig egal war. Der Präsident ließ sich unterstützen von einem Anwalt, der seine Unterstützungsbemühungen durch Anschaffung schmutziger Begebenheiten für die Endphase des US-Wahlkampfes nicht vom Auftraggeber finanziert bekam und deswegen im Nebengeschäft zwielichtige Geschäfte, auch mit korrupten Mitgliedern der ukrainischen Justiz, zu vermitteln suchte. Deutlicher ließ sich die Zustimmung der US-Regierung, vom State Department mit offenkundig schlechtem Gewissen vollzogen, zur Korruption als herrschendem Prinzip kaum kommunizieren. Mit der Abberufung von Botschafterin Yovanovitch fallen die USA aus der westlichen Phalanx in Kiew aus.
  2. Das ukrainische Verfassungsgericht schießt den Schlussstein der rechtlichen Umsetzung des Anti-Korruptionskampfes in einem Urteil vom 26. Februar 2019 schlicht ab. Es erklärt den zentralen Artikel des Strafgesetzbuches, der vorsieht, dass Staatsbeamte, die die Herkunft ihres Vermögens nicht erklären können, mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden können, für verfassungswidrig. Das Gesetz war eine zentrale Forderung der EU und des Internationalen Währungsfonds und wurde bereits 2015 verabschiedet. Seither hat das Nationale Antikorruptionsbüro Verfahren in mehr als 50 Fällen wegen illegaler Bereicherung eröffnet, die nun geschlossen werden mussten. Das heißt das Verfassungsgericht setzt sich mit diesem Urteil offen an die Spitze des Abwehr-Kampfes gegen den Anti-Korruptions-Kampf – als letzte Instanz in der Hinterhand, die noch den Stöpsel zu ziehen vermag, bevor die schützende Mauer unter dem ansteigenden Druck zerbricht und es zur Überflutung kommt. Der Westen reagiert cool, fordert in einer G7-Erklärung die Revision dieses Urteils. Dem Ukrainischen Präsidenten gelingt es, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, die inkriminierte Passage im Anti-Korruptions-Gesetzbuch erneut beschließen zu lassen und damit in Geltung zu setzen – was das für die vorbereiteten beziehungsweise zur Anklage gebrachten Verfahren bedeutet, ist ungeklärt.
  3. Am 27. Oktober 2020 dann der nächste Paukenschlag: Ausgelöst durch eine Petition von 47 Parlaments-Abgeordneten entscheidet das Verfassungsgericht, zwei Pfeiler der Anti-Korruptions-Gesetzgebung seien verfassungswidrig.
    (i) Die Nationale Agentur zur Verhinderung von Korruption (NABU) darf auf die Vermögensdeklarationen von Amtsträgern, die zur Bedingung für jeden Amtsantritt gemacht worden ist, nicht länger zugreifen. Damit werden sämtliche darauf gestützte Verfahren in die Tonne getreten.
    (ii) Der NABU-Chef sei rechtswidrig im Amt. Damit war der Vereinbarung der ukrainischen Regierung mit dem IMF vom Juni 2020 über eine Kredit-Tranche von 5 Mrd. USD die Basis entzogen.
  4. Präsident Selenskyj reagiert umgehend, am 30. Oktober 2020 mit dem Einbringen eines Gesetzentwurfs, welches einen Prozess der völligen Neubesetzung der Richter am Verfassungsgericht anstößt. Dessen Vorsitzender nennt diesen Gesetzentwurf einen versuchten „Verfassungsputsch“ – was es auch ist. Es geht um die nächste Revolution. Die zentralen Instititionen des Europarates schlagen sich in dem Konflikt der beiden Werte „Rechtsstaat“ und „Korruptionsschutz“ auf die Seite des blinden, rein formalen Rechtsverständnisses – den Konflikt zwischen „Recht“ und „Gesetz“ übergehen sie, die die zentrale Erfahrung Deutschlands, 1934 in der 5. Barmer These gefasst, übergehen sie.

Ob der Amtsinhaber der Präsidentschaft angesichts des bereits erreichten Standes der „Neu-Fraktionierung“ im Parlament für seinen Vorstoß eine Mehrheit erhalten wird, ist offen. Bei seiner Sitzung verbreitete das Parlament lediglich einen unverbindlichen Aufruf an die Verfassungsrichter, von sich aus zurückzutreten. Selenskis Gesetzesvorschlag kam nicht auf die Tagesordnung. Der Ball liegt somit im Lager des Westens: IMF und EU haben sich zum Votum des Europarates zu positionieren.

Auch ist für einen außenstehenden Beobachter nicht klar, welche zeitlichen Verzögerungen im Anti-Korruptionskampf solche rechtlichen Winkelzüge zur Folge haben – ob damit vielleicht auch unumkehrbare Folgen verbunden sind, die in Deutschland am Beispiel des berüchtigen justiziellen Groß-Betriebsunfalls, des so genannten „Dreher-Gesetzes“, einigermaßen geläufig sind. Das von Eduard Dreher, Unter-Abteilungsleiter im Bundesministerium für Justiz, federführend konzipierte „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten“ (EGOWiG) vom 24. Mai 1968 wurde vom Gesetzgeber durchgewunken, weil niemand unter den Abgeordneten es verstand; und als die Konsequenzen von Bild am Sonntag im Dezember 1968 klargemacht wurden, die nicht-intendierte Verjährung von Kapital-Verbrechen während der Nazi-Zeit, war selbst durch Rücknahme des Gesetzes der ursprüngliche Zustand nicht wieder einsetzbar. Ähnliche Effekte befürchte ich für die anhängigen Anti-Korruptions-Verfahren in der Ukraine.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.