Zur Notwendigkeit eines „Sieges“ der Ukraine
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Das Europäische Parlament verknüpft die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine mit der Bedingung eines Sieges der Ukraine – der ist durch die Rückeroberung aller ihr völkerrechtlich zustehenden Gebiete definiert. Geht es, wie wahrscheinlich, in der Ukraine allerdings aus wie in Korea, so wird der Schutz der Ukraine vor Russland vermutlich so ähnlich eingerichtet werden wie auch in den Jahren vor 2022 realisiert, durch militärische Strukturen der „NATO in Ukraine“. Doch der Angriff Russlands im Februar 2022 hat gezeigt, dass das damals an Strukturen Implantierte zur Abschreckung nicht gereicht hat.
1. … als Bedingung für einen NATO-Beitritt der Ukraine
Das Europäische Parlament hat sich in seiner Entschließung vom 15. Juni 2023 auch zum NATO-Beitritt der Ukraine geäußert. In Berichten wurde diese Passage kolportiert unter der Überschrift „EP fordert NATO-Beitritt nach Kriegsende“. Der Laie fragt sich angesichts solcher Aussagen: Ja, aber wie soll das möglich sein, sofern der Krieg beendet sein wird und Russland dann ukrainisches Territorium im Besitz hat? Wie ist dann das Territorium bestimmt, welches gegen einen Angriff gegebenenfalls kollektiv verteidigt werden soll?
Ein Blick in die Entschließung selbst klärt diese erstaunten Fragen. In Wirklichkeit hat das Europäische Parlament vermieden, vom „Kriegsende“ als Bedingung eines NATO-Beitritts zu sprechen. Die Forderung des Europäischen Parlaments lautet vielmehr so:
„betont, dass ein durch den Sieg der Ukraine herbeigeführter Frieden durch die Integration der Ukraine in die Union und die NATO gesichert werden muss“
Das Europäische Parlament verknüpft somit die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine mit der Bedingung eines Sieges der Ukraine – der ist durch die Rückeroberung aller ihr völkerrechtlich zustehenden Gebiete definiert.
Geht es, wie wahrscheinlich, in der Ukraine aus wie in Korea, so wird – so ist zu schließen – die Ukraine auf absehbare Zeit nicht Teil der NATO sein. Der Schutz der Ukraine vor Russland wird auf absehbare Zeit somit nicht durch Aufnahme in die NATO realisiert werden.
Er muss aber sichergestellt werden. Er wird vermutlich so ähnlich eingerichtet werden wie auch in den Jahren vor 2022 realisiert, durch militärische Strukturen der „NATO in Ukraine“, um die bekannte Formel von Bruno Tertrais aufzugreifen. Doch der Angriff Russlands im Februar 2022 hat gezeigt, dass das damals an Strukturen Implantierte zur Abschreckung nicht gereicht hat. Also muss für den zweiten Anlauf mehr und anderes auch an Waffen installiert werden.
2. … als Bedingung für den Frieden in der Welt
Ein Sieg der Ukraine sei zudem Bedingung für den „Weltfrieden“ – so groß und umfassend ist es in der Entschließung des Europäischen Parlaments formuliert. Wörtlich heißt es dort:
„… dass die Bedrohung des Weltfriedens erheblich zunehmen wird, wenn die Ukraine nicht siegt, da dies die Grundlage der internationalen Ordnung unwiederbringlich schädigen und feindselige Autokratien in der ganzen Welt dazu ermutigen würde, das imperialistische Verhalten Russlands nachzuahmen und ähnliche Angriffshandlungen durchzuführen“
Das Europäische Parlament scheint also davon auszugehen, dass Autokratien grundsätzlich territorial ungesättigt, also revisionistisch gesinnte Mächte seien – vielleicht aber soll die Vokabel „feindselige“ vor „Autokratien“ dies einschränkend ausdrücken. Auffällig ist, dass da direkt auf die Ebene des „Welt-Friedens“ gesprungen wird, die europäische Ebene übersprungen wird. Dabei ist bekannt, dass die globale Ordnung, die der Vereinten Nationen gemäß der Atlantik-Charta, die nach den desaströsen Erfahrungen zweier Weltkriege, die eigentlich einer sind, konzipiert wurde, eine dysfunktionale lediglich geworden ist. Die eigentliche Intention des damaligen Konzepts, die eines Gewaltmonopols in Händen einer Armee, die von den fünf Ständigen Mitgliedern (P5) des UN-Sicherheitsrates gestellt und vom UN-Generalsekretär befehligt wird, war im aufkommenden Kalten Krieg schließlich doch nicht durchsetzbar. Dieses Scheitern auf halber Strecke mit der globalen Ordnung war der Grund dafür, dass man für das besonders exponierte Europa, wo sich zwei konkurrierende Mächte mit Hegemonialanspruch und als Mitglieder der P5 direkt, ohne Pufferstaaten, gegenüberstanden (und erneut stehen), der bestehenden UN-Weltordnung nach 1989 eine gesonderte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa (beziehungsweise transatlantisch) überlagert hat – durchaus in Übereinstimmung mit nach Chapter VIII der UN-Charta, welche in Art 52 „regional arrangements or agencies“ als Teil der kollektiven Sicherheit im UN-System vorsieht. Das war die Funktion der Ordnung „gemeinsamer“ Sicherheit gemäß KSZE- und OSZE-Verträgen, ergänzt durch ein Bündel von Rüstungskontrollabkommen in diversen Konstellationen.
Der Sinn dieser zweistufigen Ordnung für die Subregion Europa ist, so zeigt der Wortlaut der Entschließung des Europäischen Parlaments, dem allgemeinen Bewusstsein verloren gegangen. Man tut heute so, als ob die UN-Ordnung eine funktionierende Ordnung sei. Man verdrängt sowohl ihre Defizienz relativ zum ursprünglichen Konzept als auch die Funktion der gesonderten Friedens- und Sicherheitsordnung nach 1989, die diese Defizienz speziell für Europa heilen sollte. Vor diesem Hintergrund scheint es klug, sich zu vergewissern, welche Schleusen es wirklich zu öffnen vermag, sofern die Grenzverschiebung in Europa aus Russlands willkürlichem Willen die Akzeptanz des Westens findet. Das Movens dafür ist nämlich nicht die Regierungsform Autokratie.
3. Die Lesart in Münklers Kirchentagsvortrag
Herfried Münkler ist in seinem Kirchentagsvortrag am 8. Juni 2023 in Nürnberg darauf erneut zu sprechen gekommen – ausführlich hatte er das zuvor in seinem Vortrag in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften getan. Münkler stellt eingangs die Frage, um welche Abwägung es zu gehen habe – mit der Botschaft, dass die Einwilligung Dritter in eine Grenzverschiebung nicht nur mit Blick auf den Einzelfall, also isoliert, zu sehen und abzuwägen sei:
„Warum sollten wir, der Westen, … uns davor hüten, … auf die Ukraine Einfluss zu nehmen, in einen Frieden zu gemäßigten Bedingungen Russlands einzuwilligen? Einzuwilligen, um des Friedens willen und mit Blick auf die Vielen, die bei einem Fortgang der Kampfhandlungen den Tod finden oder schwere Verwundungen erleiden werden, …? Ginge es nur um die Neuziehung der Grenze zwischen der Ukraine und Russland, könnte man das vielleicht ins Auge fassen …“
Anschließend warnt auch er, wie das Europäische Parlament, vor einem Nachahmer-Effekt – das hat für den historisch Kundigen schon einen Anklang an die Domino-Theorien aus der Legitimierung früherer Kriege der USA, die der „Eindämmung“ des Kommunismus galten. Die sachliche Basis dafür ist bei Münkler, anders als beim Europäischen Parlament, indes nicht die Regierungsform „Autokratie“, auch nicht eine natürliche „Feindseligkeit“. Die Basis wurzele vielmehr in geschichtlichen Bedingungen, konkret
- in der „Erfindung“ des Nationalen und in der Folge des als Nationalstaat verstandenen Territorialstaates, mit der Französischen Revolution; und
- in dem siedlungspolitischen Erbe in gewissen Regionen, das den reinen Nationalstaat, mit nur einer Nationalität seiner Bewohner, nicht zulässt.
„Das Problem ist indes, dass wir es vom Westbalkan bis zum Kaukasus, von der ukrainischen Nordgrenze bis zur südlichen Grenze der Türkei und darüber hinaus mit einem Raum zu tun haben, der bis 1918 von drei multinationalen, multilingualen und multikonfessionellen Großreichen beherrscht wurde – dem Reich der Zaren, dem Osmanenreich und der Donaumonarchie –, dem es nicht gelungen ist, eine stabile Ordnung von Nationalstaaten einzuführen und in dem eine ganze Reihe von revisionistischen Akteuren beheimatet sind: die Türkei seit Beginn von Erdoğans neoosmanischer Politik, Serbien, der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege, das Teile Bosniens und des Kosovo zurückhaben will, und auch Ungarn, weil seit dem Vertrag von Trianon 40 Prozent der ethnischen Ungarn nicht innerhalb des ungarischen Staates leben.“
Mit „Trianon“ evoziert Münklerdie Pariser Vorort-Verträge, Teil des vermeintlichen „Friedens“-Schlusses nach dem Ersten Weltkrieg. Die waren auf der Illusion aufgebaut, Frieden sei für jeden der neu zugeschnittenen Staaten in Europa möglich, obwohl mit dem Herrschaftsform-Ideal Nationalstaat, das ein jeder Staat wesensgemäß zu erreichen habe, intern ethnische Säuberungen oder extern Revisionismus angelegt waren.
In seinem Vortrag in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hatte Münkler den so beschaffenen Krisenbogen mit Nennung von Staaten im Kaukasus noch expliziter eingeführt. Die dortige aktuelle kriegerische Auseinandersetzung zwischen Aserbeidschan und Armenien passt auch in die Diagnose Münklers, weniger jedoch in das von ihm vertretene Schema der Auslösung eines kriegerischen Konfliktaustrags. Das Schema liest sich bei ihm so:
„Wird hier durch die Einwilligung in Grenzverschiebungen eine Tür aufgemacht, so ist damit zu rechnen, dass viele durch diese Tür hindurchwollen und der Raum ums Schwarze Meer mitsamt Balkan in Kriegen versinkt. Der Wunsch nach einem schnellen Frieden in der Ukraine könnte dann zum Türöffner für viele Kriege werden.“
Der Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien ist ähnlich legitimiert wie der militärische Widerstand der Ukraine: Es geht um die gewaltsame Realisierung eines völkerrechtlich verbrieften territorialen Gebietsanspruchs. Und doch gibt es die berechtigte Sorge um die physische Sicherheit der armenischen Bewohner in Berg-Karabach. Ähnlich ist die Situation in Litauen, mit der dort angesiedelten russisch-stämmigen Bevölkerung, die nach der Wende von der litauischen Mehrheitsbevölkerung in ihren staatsbürgerlichen Rechten erheblich beschnitten wurde. Die Situation mit und dann wieder im Kosovo ist ähnlich gelagert. In allen Fällen ist realistisch mit Gewaltanwendung zu rechnen, aber einen Nachahmungs-Charakter hat das in keinem der drei Fälle.
Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.