„Atlas der Zivilgesellschaft 2021“: Freiheitsrechte weltweit unter Druck

 

Repressive Regierungen haben weltweit die Corona-Pandemie als Gelegenheit genutzt, um unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes Kritiker mundtot zu machen, so die Erhebungen von CIVICUS, einem weltweiten Netzwerk für bürgerschaftliches Engagement, und die Auswertung verschiedener Quellen und Indizes, beispielweise zur Rede- oder Versammlungsfreiheit. Lediglich 42 Staaten ermöglichen und sichern allen Menschen zivilgesellschaftliche Freiheiten, sodass ihnen ohne rechtliche oder praktische Hürden möglich ist, Vereinigungen zu bilden, im öffentlichen Raum Demonstrationen abzuhalten und Informationen zu erhalten und zu verbreiten. Dazu zählen unter anderem Deutschland, Kanada, Taiwan und Uruguay – Frankreich, Ungarn und die USA hingegen zählen nicht zu diesen Staaten.



 

(Berlin, 4. Mai 2021) „Für die Zivilgesellschaft war 2020 kein gutes Jahr. Die Entwicklung der Freiheitsrechte zeigt seit Jahren vor allem nach unten ‑ und das vergangene Jahr markiert einen neuen Tiefpunkt“, sagt Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt, bei der Vorstellung des „Atlas der Zivilgesellschaft 2021“. Das Entwicklungswerk hat heute den Bericht zum vierten Mal gemeinsam mit dem Netzwerk CIVICUS in Berlin vorgestellt. Fast 90 Prozent der Weltbevölkerung leben demnach in Staaten mit beschränkter, unterdrückter oder geschlossener Zivilgesellschaft. Länder in diesen drei unteren Kategorien sind etwa Ungarn, Ägypten und Indien. Auch die USA sind im letzten Jahr der Amtszeit von Donald Trump aus der zweiten („beeinträchtigt“) in die dritte Kategorie („beschränkt“) abgerutscht. Jeder vierte Mensch ‑ zwei Milliarden weltweit – lebt in einem Staat, der gesellschaftspolitisches Engagement vollständig unterbindet.

Der Atlas der Zivilgesellschaft geht auf Daten-Erhebungen im Jahr 2020 zurück und erfasst damit auch die dramatische Zuspitzung der Lage während der Corona-Pandemie. „Millionen Menschen auf der ganzen Welt gerieten durch Corona in Existenznot. Sie protestierten für Gerechtigkeit, Zugang zu Pandemie-Nothilfe und ein Ende von Korruption und Veruntreuung“, sagt Pruin. „Doch als Antwort darauf bekämpften Regierungen in vielen Ländern nicht die Ursachen für den Protest, sondern den Protest selbst.“

Der Atlas belegt, dass Grundrechts-Einschränkungen in vielen Ländern wichtige Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit oder Notwendigkeit missachteten. „Repressive Regierungen haben die Pandemie als Gelegenheit genutzt, um unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes Kritiker mundtot zu machen“, sagt Pruin. „Dabei ist der Zusammenhang eindeutig: Repression verhindert Entwicklung. Gerade 2020 hat gezeigt, dass Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle für die Bewältigung von Krisen spielt ‑ etwa dabei, Bedürftige zu versorgen oder marginalisierten Gruppen eine Stimme zu geben.“

Die Zahlen zeigen jedoch eindeutig, dass die dokumentierten Grundrechtsverletzungen im Vergleich zu 2019 beinahe in allen Bereichen gestiegen sind: Es wurden mehr Aktivistinnen verhaftet, mehr Journalisten angegriffen und mehr restriktive Gesetze erlassen. Auch Fälle übermäßiger Gewalt staatlicher Sicherheitskräfte haben deutlich zugenommen.

Der Atlas der Zivilgesellschaft geht im ersten Teil auf den aktuellen Stand weltweiter zivilgesellschaftlicher Freiheiten ein und zeigt an vielen Beispielen die negativen Auswirkungen der Pandemie auf gesellschaftspolitische Teilhabe. Ein Doppel-Interview mit der Juristin Lea Beckmann und dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow beleuchtet die Situation in Deutschland und die schwierige Abwägung zwischen Gesundheitsschutz auf der einen und elementaren Grundrechten wie Versammlungsfreiheit auf der anderen Seite.

Der zweite Teil nimmt die Situation in einzelnen Ländern ausführlich unter die Lupe und analysiert, durch welche konkreten Gesetze und Ereignisse die gesellschaftliche Freiheit beschnitten wurde. Die Länder im Fokus sind in diesem Jahr Kolumbien, Kambodscha, Georgien, Simbabwe, die Philippinen und El Salvador. Kurz-Interviews mit Partnerorganisationen von Brot für die Welt zeigen, welchen Schwierigkeiten zivilgesellschaftliche Organisationen in den unterschiedlichen Bereichen ausgesetzt sind.

Die Frauenrechtlerin Morena Herrera aus El Salvador etwa beschreibt, dass die Gewalt gegen Frauen in El Salvador während der Pandemie weiter zunahm. Das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden beschreibt sie so: „Meine Organisation hat früher sehr viele Polizisten geschult, etwa in den Themen Frauen- und Menschenrechte oder Gleichberechtigung. Heute aber haben wir keinerlei Vertrauensverhältnis mehr zur Polizei. Sie hat jedes Gefühl für die Gesellschaft und auch für ihre zivile Rolle verloren. Das ist schlimm.“ Auf den Philippinen hat Präsident Duterte die Methoden seines „War on drugs“ auf die Bekämpfung der Pandemie übertragen. Mehr als 100.000 Menschen wurden allein zwischen März und September verhaftet, weil sie sich – so der Vorwurf – nicht an die Pandemie-Regeln hielten.

Hintergrund

Die Daten für den Atlas der Zivilgesellschaft basieren auf Erhebungen von CIVICUS, einem weltweiten Netzwerk für bürgerschaftliches Engagement, und der Auswertung verschiedener Quellen und Indizes, beispielweise zur Rede- oder Versammlungsfreiheit.

CIVICUS unterteilt die Freiheitsgrade einer Gesellschaft in fünf Kategorien: offen, beeinträchtigt, beschränkt, unterdrückt und geschlossen.

  • Die Daten belegen, dass der Handlungsraum der Zivilgesellschaft nur in 42 Staaten „offen“ ist. Costa Rica und Slowenien sind im Vergleich zum Vorjahr aus dieser Kategorie abgerutscht, Österreich ist hinzugekommen.
  • In 40 Staaten (Atlas 2020: 42) ist der Handlungsraum „beeinträchtigt“, darunter EU-Staaten wie Italien, Frankreich und Polen.
  • 47 Staaten (2020: 49) „beschränken“ den Handlungsraum der Zivilgesellschaft, auch die USA und Ungarn.
  • Die Zivilgesellschaft wird in 44 Staaten „unterdrückt“ (2020: 38), neu in dieser Kategorie sind etwa die Philippinen und Togo.
  • Als „geschlossen“ gilt der Raum für zivilgesellschaftliche Akteure in 23 Staaten (2020: 24), darunter Ägypten, Aserbaidschan, Irak und China.

Einzelne Kategorien des CIVICUS-Monitor

Die Kategorie „offen“ definiert der CIVICUS-Monitor: „Der Staat ermöglicht und sichert allen Menschen zivilgesellschaftliche Freiheiten. Es ist ihnen ohne rechtliche oder praktische Hürden möglich, Vereinigungen zu bilden, im öffentlichen Raum Demonstrationen abzuhalten und Informationen zu erhalten und zu verbreiten. Autoritäten sind offen für Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und bieten Plattformen für intensiven und konstruktiven Dialog mit Bürgern und Bürgerinnen. Demonstrierende werden von der Polizei grundsätzlich geschützt und Gesetze zur Regelung des Versammlungsrechts entsprechen internationalen Standards. Es gibt freie Medien, Internet-Inhalte werden nicht zensiert und Regierungsinformationen sind leicht zugänglich.“

Zu dieser Kategorie zählen unter anderem Deutschland, Kanada, Taiwan und Uruguay.

Die Kategorie „beeinträchtigt“ definiert der CIVICUS-Monitor: „Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist es überwiegend gestattet, ihre Rechte zur Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit auszuüben. Trotzdem kommen Verletzungen dieser Rechte vor. Menschen können Vereinigungen zur Verfolgung einer ganzen Bandbreite von Interessen bilden. Es gibt aber Fälle, in denen als regierungskritisch geltende Vereinigungen juristisch verfolgt oder anderweitig schikaniert werden. Demonstrationen verlaufen weitgehend ungestört, werden von den Behörden aber teilweise unter Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten. Es kommt auch vor, dass unverhältnismäßige Gewalt wie Tränengas oder Gummigeschosse gegen friedliche Demonstrierende eingesetzt wird. Die Medien haben die Freiheit, ein breites Spektrum von Informationen zu verbreiten. Eine völlig freie Entfaltung der Presse wird aber entweder durch strikte Regulierung oder Ausübung von politischem Druck auf Medienschaffende verhindert.“

Zu dieser Kategorie zählen unter anderem Australien, Frankreich, Japan und Südafrika.

Die Kategorie „beschränkt“ definiert der CIVICUS-Monitor: „Die Regierenden beschränken eine freie Grundrechtsentfaltung durch eine Kombination aus rechtlichen und praktischen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Organisationen existieren zwar, doch staatliche Stellen versuchen sie zu zersetzen, unter anderem durch Überwachung, bürokratische Schikane und öffentliche Demütigung. Bürgerinnen und Bürger können sich friedlich versammeln, werden aber häufig von Polizeikräften unter Einsatz exzessiver Gewalt auseinandergetrieben, etwa mit Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken. Es gibt Raum für nichtstaatliche Medien und redaktionelle Unabhängigkeit, aber Journalistinnen und Journalisten sind von körperlichen Übergriffen und Verleumdungsklagen betroffen. Sie sehen sich daher zur Selbstzensur genötigt.“

Zu dieser Kategorie zählen unter anderem Brasilien, Kasachstan, Ungarn und die USA.

Die Kategorie „unterdrückt“ definiert der CIVICUS-Monitor: „Der zivilgesellschaftliche Raum ist stark eingeschränkt. Aktivisten und Aktivistinnen, die diejenigen an der Macht kritisieren, riskieren es, überwacht, drangsaliert, eingeschüchtert, inhaftiert, verletzt oder sogar getötet zu werden. Obwohl es einige zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, wird deren Advocacy-Arbeit regelmäßig verhindert, und sie sind von De-Registrierungen und Schließungen betroffen. Menschen, die friedliche Demonstrationen organisieren oder daran teilnehmen, werden häufig zum Ziel exzessiver Gewaltanwendung seitens der Behörden, darunter fallen der Einsatz von scharfer Munition, Massenverhaftungen und Gewahrsam. Die Medien geben typischerweise die Sicht des Staates wieder, und unabhängige Stimmen werden routinemäßig durch Razzien, körperliche Übergriffe oder langwierige Strafverfahren verfolgt. Kritische Webseiten und soziale Medien sind blockiert, und die Internetnutzung wird stark überwacht.“

Zu dieser Kategorie zählen unter anderem Afghanistan, Russland, Thailand und Venezuela.

Die Kategorie „geschlossen“ definiert der CIVICUS-Monitor: „Der zivilgesellschaftliche Raum ist – in rechtlicher und praktischer Hinsicht – komplett geschlossen. Es herrscht eine Atmosphäre der Furcht, in der staatliche und mächtige nicht-staatliche Akteure ungestraft davonkommen, wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheiten inhaftieren, körperlich misshandeln oder töten. Jegliche Kritik am herrschenden Regime wird schwer bestraft. Es gibt keine Medienfreiheit. Das Internet ist stark zensiert und die meisten Webseiten sind geblockt.“

Zu dieser Kategorie zählen unter anderem China, Nordkorea, Saudi-Arabien und Vietnam.

Dagmar Pruin leitet seit März 2021 das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt.
Der Atlas der Zivilgesellschaft erscheint im Oekom-Verlag München: Brot für die Welt, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. (Hrsg.): „Atlas der Zivilgesellschaft. Report zur weltweiten Lage“ 100 Seiten ISBN 978-3-96238-305-3.