Entwicklungsprojekte stehen in der Corona-Krise vor ungeahnten Problemen

 

MISEREOR und Diakonie Katastrophenhilfe fordern Bundesregierung zu raschen, unbürokratischen Lösungen auf

Weltweite humanitäre Krisen, die schon vor der Corona-Pandemie Millionen Menschen bedroht haben, sind nicht einfach verschwunden, sondern können sich in den kommenden Monaten teilweise massiv zuspitzen. Entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen stehen daher vor nie dagewesenen Herausforderungen. Reiseeinschränkungen, Kontaktsperren und Ausgehverbote behindern Partner vor Ort massiv in der Durchführung vorgesehener Aktivitäten, europäische Fachkräfte können auf unbestimmte Zeit ihren Dienst nicht antreten oder müssen ihre Einsätze abbrechen.



 

(Aachen, April 2020) Durch die Corona-Krise wird sich die Situation der Menschen in Krisenregionen weiter verschlechtern. Sie werden die Krankheit selbst, aber auch wirtschaftliche, soziale und politische Auswirkungen der globalen Krise massiv zu spüren bekommen. Die Diakonie Katastrophenhilfe warnt davor, die Lage zu unterschätzen. Gesundheitssysteme in vielen ärmeren Ländern sind nicht dazu in der Lage, mit einer großen Zahl von Corona-Patienten umzugehen. „Besonders zuspitzen wird sich die Lage in Ländern wie Syrien, wo die Kriegsparteien in den vergangenen Jahren gezielt die medizinische Infrastruktur zerstört haben“, sagt Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe. „Für unsere Arbeit in Krisengebieten brauchen wir gerade jetzt finanzielle Unterstützung.“

Die Gesundheitssysteme in Syrien, aber auch im Jemen oder in Venezuela, sind schon ohne die Gefahr durch Corona kaum existent oder nicht leistungsfähig. Selbst verhältnismäßig gut zu behandelnde Krankheiten verlaufen häufig tödlich. „Wenn die ohnehin wenigen und überlasteten Krankenhäuser nun mit vielen Corona-Fällen konfrontiert sind, können andere Krankheiten gar nicht mehr behandelt und Geburtshilfe nicht mehr geleistet werden“, sagt Füllkrug-Weitzel. „Und wir befürchten, dass viele Menschen in Krisen- und Konfliktgebieten nicht nur an COVID-19, sondern auch an den indirekten Folgen durch die Bewegungseinschränkungen leiden müssen.“ Hierzu zählt etwa Hunger, weil Einkommensmöglichkeiten wegbrechen und Felder wegen Ausgangssperren brachliegen.

„Die Politik ist jetzt gefordert und muss zusätzliche Mittel für Hilfsorganisationen bereitstellen. Die humanitären Krisen, die schon vor der Corona-Pandemie Millionen Menschen bedroht haben, sind nicht einfach verschwunden, sondern können sich in den kommenden Monaten teilweise massiv zuspitzen. Daher reicht es nicht aus, wenn Gelder einfach umgeschichtet werden“, fordert Füllkrug-Weitzel. Gerade jetzt sei es wichtig, internationale Solidarität zu leben. „Wir bitten auch die Menschen hierzulande, all jene nicht zu vergessen, die schon vor der Corona-Krise in großer Not waren und rufen zu Spenden für unsere Arbeit auf.“

Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe.

Weitere Herausforderungen durch administrative Probleme

MISEREOR steht durch die Corona-Pandemie derzeit gleich mehrfach vor großen Herausforderungen. Täglich erreichen das Werk für Entwicklungszusammenarbeit aus zahlreichen Ländern des Südens Bitten um Unterstützung bei der Bewältigung der Virus-Krise. Gleichzeitig hat die Organisation mit Sitz in Aachen auch administrativ komplizierte Probleme zu bewältigen.

„Wir müssen aktuell eine ganze Menge unkonventionelle und flexible Lösungen finden, um mit den uns anvertrauten Projektgeldern aus öffentlichen Mitteln und Spenden auf die veränderte Lage reagieren zu können“, gibt Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon zu bedenken, der bei MISEREOR als Vorstand für die internationale Zusammenarbeit des Werkes zuständig ist. Wie MISEREOR sprechen auch andere europäische Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit von dem Rechtsbegriff der „höheren Gewalt“, die dazu zwinge, anzuerkennen, dass von üblichen Förderrichtlinien unter Umständen abgewichen werden müsse.

Reiseeinschränkungen und Kontaktsperren

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: „Reiseeinschränkungen, Kontaktsperren und Ausgehverbote behindern unsere Partner massiv in der Durchführung vorgesehener Aktivitäten“, erläutert Bröckelmann-Simon. „Fachkräfte können auf unbestimmte Zeit ihren Dienst nicht antreten oder müssen ihre Einsätze abbrechen. In Indien mussten Partner ihre Berufsschulen auf Fernunterricht umstellen, Mitarbeiter von ländlichen Beratungsdiensten in Sri Lanka nähen nun Mundschutze, statt aufs Land hinauszufahren, städtische Beratungsorganisationen in den Slums von Sao Paulo werden durch die staatlichen Notverordnungen ausgesperrt, Straßenkinder-Projekte in Kenia konzentrieren sich jetzt auf Desinfektionsmaßnahmen und Corona-Prävention.“ Gleichzeitig sei das Ausmaß möglicher Notlagen durch die Corona-Pandemie in vielen Weltregionen noch gar nicht absehbar, die Entwicklungszusammenarbeit der kommenden Monate damit nur schwer zu planen. Ebenso würden derzeit auch Prüf- und Auswertungsaufgaben nur noch auf Distanz möglich.

Martin Bröckelmann-Simon ist Geschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerkes MISEREOR.

MISEREOR-Appell ans Ministerium

MISEREOR wird aus diesem Grund auch bei den mit öffentlichen Mitteln finanzierten Projekten in begründeten Fällen vorerst mit Ausnahmeregelungen arbeiten müssen. Aktuell sei es vielfach nicht mehr möglich, alle vereinbarten Projektziele ohne Verzögerung und in gewohntem Umfang einzuhalten. Auch die nötigen Planungen für Folgeprojekte des kommenden Jahres würden darunter leiden. Zugleich werde man jetzt in laufenden Projekten verfügbare Finanzmittel sehr kurzfristig umwidmen müssen, „um rasch auch Maßnahmen der Corona-Prävention und -Bekämpfung für die Zielgruppen und das lokale Personal möglich zu machen“, erläutert Bröckelmann-Simon. „Wir brauchen auch für Entwicklungsprojekte einen Schutzschirm und kreative Lösungen mit Blick auf Haushaltsordnung und Förderrichtlinien, sonst brechen uns vor Ort in vielen Ländern gerade diejenigen Partnerstrukturen weg, die für die Ärmsten von besonderer Bedeutung sind. Ich hoffe sehr, dass in den nächsten Wochen und Monaten da von den Ministerien und dem Parlament gute unbürokratische Lösungen auch im Entwicklungsbereich im Hinblick auf die Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln gefunden werden. Die Corona-Krise hat langfristige Auswirkungen bis weit in das kommende Jahr 2021 hinein.“ Die große Schnelligkeit und Flexibilität, die in Deutschland derzeit innenpolitisch bei Maßnahmen zur Abfederung der Corona-Folgen an den Tag gelegt wird, müsse auch für die entwicklungspolitischen Förderungen gelten.

Anpassungen vor Ort bei der Diakonie Katastrophenhilfe

Im intensiven Austausch mit ihren lokalen Partnerorganisationen hat die Diakonie Katastrophenhilfe bereits Hilfsprojekte an die aktuelle Situation angepasst und wird dies in den kommenden Tagen weiter vorantreiben. „Gerade in Zeiten von Reisebeschränkungen, die auch Hilfsorganisationen treffen, zeigt sich, dass humanitäre Hilfe ohne unsere lokalen Partner undenkbar ist“, sagt Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe. „Darauf müssen auch die staatlichen Geber reagieren und den lokalen Helfern einen besseren Zugang zu finanziellen Ressourcen ermöglichen.“

In den vergangenen Tagen wurden bereits Aufklärungskampagnen in verschiedenen Ländern gestartet, beispielsweise in Indien, Indonesien und Guatemala. In dem südamerikanischen Land schaltet der lokale Partner der Diakonie Katastrophenhilfe Radiospots, um die Menschen auf die Gefahr durch Corona und nötige Prävention hinzuweisen. Hygieneprojekte in der DR Kongo, die bis vor kurzem die Bevölkerung vor Ebola schützen sollten, werden nun gegen eine Ausbreitung des Corona-Virus eingesetzt.

Situation in Europa

MISEREOR und Diakonie Katastrophenhilfe stehen in dieser Situation nicht alleine da. Auch der europäische Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen CONCORD hat in einem Brief an zwei Fachabteilungen der EU-Kommission wegen der Corona-Krise in ähnlicher Weise um situationsbedingte Ausnahmen von den üblichen Förderrichtlinien gebeten.