MISEREOR: Länder des Südens brauchen mehr Aufmerksamkeit

 

In Lateinamerika ist Corona für die schweren sozialen und ökologischen Brände in zahlreichen Ländern ein katastrophaler Brandbeschleuniger: Die Abholzung des Regenwaldes und politische Spannungen nehmen zu, einigen indigenen Gemeinschaften droht ein Genozid. In Afrika sind die Folgen des Lockdowns oftmals größer als die des Virus selbst – erkennbar an Tagelöhnern, die ihre Familien nicht mehr ernähren können, Versorgungsengpässen und unterbrochenen Lieferketten. Und in Asien nutzen repressive Regierungen die Krise, um MenschenrechtsverteidigerInnen zu verfolgen und Grundfreiheiten einzuschränken.

(Berlin, 23. Juli 2020) MISEREOR hat Bundesregierung und Europäische Union dazu aufgefordert, bei der Bewältigung der Corona-Folgen die ärmeren Länder des Südens stärker zu unterstützen. Bei der Vorlage der Jahresbilanz des katholischen Werks für Entwicklungszusammenarbeit sagte Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel, umfassende Solidarität über Landesgrenzen hinweg und das Sorgetragen auch für die uns fernstehenden Menschen auf anderen Kontinenten seien Gebote der Stunde: „Ohne globale Kooperation und Perspektiven werden wir im Zeitalter weltweiter Vernetzung scheitern.“

Im Rahmen der Virus-Krise habe man in den vergangenen Monaten gesehen, welche Dimension an Veränderung in kurzer Zeit möglich sei, wenn der politische Wille dazu besteht, betonte Spiegel. „Die COVID-19-Pandemie ist ein Momentum, das uns die Gelegenheit bietet, nachhaltig umzusteuern und damit zu einer Welt zu kommen, die allen ein Leben in Würde, Gerechtigkeit und Sicherheit ermöglicht, in der niemand zurückbleibt.“ Mit ihren 2015 verabschiedeten 17 UN-Nachhaltigkeitszielen habe die Weltgemeinschaft zugesagt, die Verhältnisse auf der Erde entsprechend zu verbessern. Daher sei es nun höchste Zeit zu handeln, da die Nachhaltigkeitsziele sonst nur in wenigen Teilbereichen erreicht werden könnten. Aktuell gebe es bereits schmerzhafte Rückschläge, erkennbar an der wachsenden Zahl an Hungernden und Geflüchteten.

Spiegel forderte von Deutschland eine Wende hin zu einem „Alltag der glücklichen Genügsamkeit“, einen sorgsameren Umgang mit Mitwelt und Ressourcen und eine gerechtere Wirtschafts- und Handelspolitik. „Es muss Schluss sein mit einer ungerecht aufgestellten globalisierten Arbeitsteilung, die bei ehrlicher Bilanzierung deutlich macht, dass wir auf Kosten von Mensch und Natur wirtschaften und andere unsere Rechnung bezahlen.“

Die Krisen verschärfen sich

Mit großer Sorge betrachtet Spiegel die aktuellen Entwicklungen auf den Südkontinenten. In Lateinamerika sei Corona für die schweren sozialen und ökologischen Brände in zahlreichen Ländern ein katastrophaler Brandbeschleuniger. Die Abholzung des Regenwaldes und politische Spannungen nähmen zu, einigen indigenen Gemeinschaften drohe ein Genozid. In Afrika seien die Folgen des Lockdowns oftmals größer als die des Virus selbst ‑ erkennbar an Tagelöhnern, die ihre Familien nicht mehr ernähren können, Versorgungsengpässen und unterbrochenen Lieferketten. Und in Asien, so beklagte es der MISEREOR-Chef, nutzten einige repressive Regierungen die Krise, um MenschenrechtsverteidigerInnen zu verfolgen und Grundfreiheiten einzuschränken.

Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerkes MISEREOR.

Deutsche Waffen an autokratische Regierungen

Der Vorsitzende der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Prälat Karl Jüsten, äußerte die Befürchtung, dass die von Entwicklungsminister Gerd Müller geplante Reduzierung jener Länder, mit denen Deutschland im Entwicklungsbereich kooperiert, vor allem für fragile Staaten von großem Nachteil sein könnte. „Es könnte dazu führen, dass in diesen Ländern die Zivilgesellschaft die Last der ausbleibenden Zusammenarbeit künftig schultern muss.“ Scharf kritisierte Jüsten die jüngsten Rüstungsexporte an autokratische Regime außerhalb der NATO. „Es ist völlig unverständlich, dass solche Regime, wie etwa diejenigen in Ägypten und Saudi-Arabien, damit in die Lage versetzt werden, deutsche Waffen gegen unliebsame Gegner im In- und Ausland einzusetzen.“

Für Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamts und MISEREOR-Beiratsmitglied, erlebt die Welt während der Corona-Krise aktuell eine Zweiteilung: „In den OECD-Staaten geht es um eine Green Recovery, einen nachhaltigen Weg aus der Krise. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Für viele Menschen in den Entwicklungsländern hingegen geht es schlicht ums Überleben.“ Die steigende Armut bereite großen Anlass zur Sorge, so Messner: „Wenn wir die UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 erreichen wollen, müssen wir noch viel mehr tun. Deshalb wäre es beispielsweise wichtig, dass die Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hochgefahren statt gekürzt werden.“

MISEREOR hat im Jahr 2019 insgesamt 232,3 Millionen Euro eingenommen und konnte damit für seine Projekt-, Advocacy- und Lobbyarbeit in aktuell 85 Ländern Asien und Ozeaniens, Afrikas und des Nahen Osten, Lateinamerika und der Karibik 100.000 Euro mehr einsetzen als ein Jahr zuvor. Die Einnahmen an Spenden und Kollekten betrugen wie im Vorjahr 57 Millionen Euro,  die Zuwendungen aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung lagen bei 166,3 Millionen Euro. Die Aufwendungen für Werbung, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit hatten im Gesamtetat einen Anteil von 6,5 Prozent.