EU-Asylkompromiss vom Juni 2023 ist ein historischer Bruch des Flüchtlingsschutzes

 

Dutzende zivilgesellschaftliche Organisationen stehen schon seit langem für den Flüchtlingsschutz und für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in der EU. Dass die EU-Innenministerinnen und -minister nach dem Asyl-Kompromiss von ihnen an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert werden müssen, ist ein fatales Signal: Eine humanitäre und an den Prinzipien der Menschenrechte orientierte Asylpolitik ist eine tragende Säule der europäischen Erzählung. Stürzt diese Säule ein, wird die EU international als Anwalt von Menschenrechten zurecht belächelt werden.

(Nürnberg/Berlin, 9. Juni 2023) Der Asylkompromiss der EU-Innenminister:innen vom 8. Juni 2023 steht unter starker Kritik von mehr als 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in der Flüchtlingsarbeit engagiert sind. Nach Einschätzung von Diakonie Deutschland und Brot für die Welt hebelt der Kompromiss faire Asylverfahren an den EU-Außengrenzen aus und muss dringend vom Europäischen Parlament nachgebessert werden. Gerade die Belange und Rechte von Familien mit zum großen Teil traumatisierten Kindern müssen gewahrt bleiben. Zudem darf die EU ihre Schutzverantwortung nicht an Drittstaaten delegieren.

Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt: „Der Kompromiss für eine EU-Asylreform ist kein historischer Erfolg, sondern ein historischer Bruch des Flüchtlingsschutzes. Künftig werden nur wenige Menschen das Recht und die Chance haben, in der Europäischen Union Asyl zu beantragen. Durch die Ausweitung des Sicheren Drittstaatsprinzips können sich Mitgliedsstaaten ihrer Schutzverpflichtung zukünftig entziehen. Trotz aller Anstrengungen für einen gemeinsamen europäischen Kompromiss ist dieses Ergebnis ein menschenrechtliches Armutszeugnis. Das EU-Parlament muss diesen Weg dringend korrigieren.“

Die Sichere Drittstaatenregelung sieht eine Zulässigkeitsprüfung vor, durch welche Anträge abgelehnt werden können, wenn Geflüchtete über einen sogenannten sicheren Drittstaat in die EU eingereist sind. Sie ermöglicht eine Abschiebung in diesen Drittstaat mit dem Verweis, dass auch dort Schutz bestehe. „Die Realität ist jedoch, dass viele Menschen dort nicht sicher sind und auch aus diesen Ländern weiter abgeschoben werden. Mit der beschlossenen Aufweichung der Kriterien für sichere Drittsaaten würde Europa einen tiefen Burggraben um die Außengrenzen ziehen“, so Pruin weiter.

Dass die EU-Innenministerinnen und -minister an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert werden müssen, ist ein fatales Signal

Diakonie Präsident Ulrich Lilie: „Dass die EU-Innenministerinnen und -minister am Tag nach dem Asyl-Kompromiss an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert werden müssen, ist ein fatales Signal ‑ nicht nur für die Schutzsuchenden, sondern für alle Menschen in der EU. Nun ist es am Europäischen Parlament, diesen faulen Kompromiss auf Kosten der Schwächsten zu korrigieren. Die Vorstellung, dass künftig auch Familien mit Kindern in Lagern an den Außengrenzen inhaftiert werden könnten, ist unerträglich. Ebenso die Aussicht, dass schutzbedürftigen Menschen faire und sorgfältige Asylverfahren verwehrt würden. Eine humanitäre und an den Prinzipien der Menschenrechte orientierte Asylpolitik ist eine tragende Säule der europäischen Erzählung. Stürzt diese Säule ein, werden wir international als Anwalt von Menschenrechten zurecht belächelt werden.“

Die Diakonie steht mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen schon seit langem für den Flüchtlingsschutz und für eine menschenwürdige Aufnahme in der EU. „Stattdessen soll das Prinzip der Ersteinreise verschärft werden und sollen sich Staaten künftig vom Flüchtlingsschutz freikaufen können. Mit ihrem Kompromiss bereiten die EU-Innenminister den Boden für Rechtlosigkeit und Verelendung von Schutzsuchenden. Nun ist es an der Volksvertretung der Europäer, diesen Kurswechsel zu stoppen“, so Lilie.

Abschottung und Ausgrenzung haben gewonnen

Auch Save the Children kritisiert die Vereinbarungen zum EU-Asylsystem, die beim Treffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni ausgehandelt wurden. Marvin Mc Neil, Advocacy Manager für Flucht und Migration bei Save the Children Deutschland, sagt: „Mit der Verschärfung des Asylverfahrens werden grundlegende humanitäre Prinzipien über Bord geworfen. Völlig legal können schutzsuchende Kinder jetzt mit ihren Familien unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einem ‚historischen Erfolg‘. Wir sagen: Abschottung und Ausgrenzung haben gewonnen.

Die geplanten Änderungen werden den Zugang zu Asyl massiv beschneiden und verstoßen gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Schutzsuchende Kinder und ihre Familien dürfen nicht in Grenzlagern festgehalten werden. Was sie brauchen: eine kindgerechte Umgebung, Schutz und eine sichere Perspektive. Haftähnliche Unterkünfte, wie sie an den EU-Außengrenzen geplant sind, sind niemals geeignet für Kinder und ihre Familien.“

Gemeinsamer Apell zu echter Solidarität in der europäischen Flüchtlingspolitik statt Weiterführung eines gescheiterten Systems

Mehr als 50 zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich mit einem gemeinsamen Apell: „Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes“ an die Bundesregierung gewandt. Darin fordern sie unter anderem in der europäischen Flüchtlingspolitik echte Solidarität statt Weiterführung eines gescheiterten Systems:

„Die anhaltende Solidaritätskrise innerhalb der EU und die unfairen Zuständigkeitsregelungen der Dublin-Verordnungen – insbesondere das Ersteinreisekriterium – führen dazu, dass Mitgliedstaaten bestehende Regelungen nicht anwenden und versuchen, immer mehr Verantwortung an Nicht-EU-Länder auszulagern. Die aktuellen Reformvorschläge verstärken die Schwachstellen des gescheiterten Zuständigkeitssystems. Das gilt auch für den deutschen Vorschlag, die Zeit für eine innereuropäische Rücküberstellung an den zuständigen Mitgliedstaat von sechs auf zwölf Monate zu verdoppeln. Derartige Vorschläge verlegen mehr Verantwortung auf die Außengrenzstaaten und sind unsolidarisch. Vor allem gehen sie hauptsächlich zu Lasten der Schutzsuchenden, die noch länger auf die inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags in der EU warten müssen. Anstatt ein dysfunktionales System neu aufzulegen, sollte an einem tatsächlich solidarischen Aufnahmemechanismus gearbeitet werden. Entscheidend für einen neuen Mechanismus der Verantwortungsteilung ist aber, dass sich sowohl die einzelnen EUMitgliedstaaten als auch die Schutzsuchenden darin wiederfinden können. Er muss auch die Interessen und Verbindungen der betroffenen Menschen berücksichtigen und nach Anerkennung des Schutzgesuchs innerhalb der EU frühestmöglich Freizügigkeit erlauben.“

Dagmar Pruin ist Präsidentin von Brot für die Welt.

Der gemeinsame Appell von über 50 Organisationen an die Bundesregierung: „Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes“ steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.