Offener Brief: Atomkraft ist kein Klimaretter!

 

Atomkraft hat einen Anteil von 4,3 Prozent an der weltweiten Energieerzeugung: Um die klimaschädliche Kohle durch Atomkraft zu ersetzen, müssten 2.600 AKW gebaut werden. Jeder Euro, der in die weitere Förderung von Atomkraft fließt, verhindert den schnellen Umstieg auf Erneuerbare Energien. Rund um den Globus sind sie inzwischen deutlich kostengünstiger als Atomstrom und gegenüber bestehenden Kohle- und Gaskraftwerken konkurrenzfähig.



 

(München, 14. August 2021) In einem offenen Brief appelliert die Nuclear Free Future Foundation an die Vorsitzenden der Parteien des demokratischen politischen Spektrums in Deutschland, sich eindeutig gegen Atomkraft als Retter in der Klimakrise zu positionieren. Die Hochwasserkatastrophen im Westen Deutschlands und die Brände in Südeuropa führten uns dramatisch vor Augen, dass der Klimawandel bereits Wirklichkeit ist. Die Atomindustrie preise sich als Retterin gegen die Klimakrise. Das allerdings sei aus verschiedenen Gründen falsch:

  1. Atomkraft hat einen Anteil von 4,3 Prozent an der weltweiten Energieerzeugung. Um die klimaschädliche Kohle durch Atomkraft zu ersetzen, müssten 2600 AKW gebaut werden.
  2. Ein solch massiver AKW-Ausbau würde das bereits bestehende Sicherheitsrisiko dramatisch vergrößern und die jeweiligen Staaten wirtschaftlich enorm belasten.
  3. Der Bau von Atomkraftwerken dauert viel zu lange und ist viel zu teuer, um zur Lösung der Klimakrise etwas beitragen zu können.
  4. Die Atomreaktoren der vierten Generation sind nach einem Bericht des Wissenschaftlichen Diensts des Deutschen Bundestags nicht vor 2060 kommerziell verfügbar.
  5. Sogenannte Kleine modulare Reaktoren (SMR) werden neuerdings als Lösung angepriesen. Ihre geringe Größe macht sie aber höchst unwirtschaftlich.
  6. Am Milliarden-Projekt Fusionsreaktor ist Deutschland über den EURATOM-Vertrag unbefristet beteiligt. Mit seiner Realisierung ist vor Ende des Jahrhunderts nicht zu rechnen.

Jeder Euro, der in die weitere Förderung von Atomkraft fließe, verhindere den schnellen Umstieg auf Erneuerbare Energien. Rund um den Globus sind sie inzwischen deutlich kostengünstiger als Atomstrom und gegenüber bestehenden Kohle- und Gaskraftwerken konkurrenzfähig.

Hier der offene Brief mit der ausführlichen Begründung der einzelnen Punkte:

Sehr geehrte Parteivorsitzende, sehr geehrter Parteivorsitzender, die Hochwasserkatastrophen im Ahrtal und an der Erft und die Brände in Süditalien, der Türkei und in Griechenland haben uns dramatisch vor Augen geführt, dass der Klimawandel bereits Wirklichkeit ist. Und der neue Sachstandsbericht des Weltklimarats IPPC hat Anfang August keinen Zweifel daran gelassen, „dass menschliches Handeln die Atmosphäre erwärmt hat“ und wir den CO2-Ausstoß sofort verringern müssen, um noch größere Wetterkatastrophen zu vermeiden.

Die Atomindustrie preist sich seit längerem als Retterin gegen die Klimakrise und versucht, in die EU-Taxonomie aufgenommen und damit als nachhaltig und „grün“ eingestuft zu werden, um dementsprechend Milliarden an Förderung erhalten zu können. Auf EU-Ebene ist über die Einstufung von Atomkraft noch nicht entschieden. Es wäre aber fatal, sie als „nachhaltig“ zu klassifizieren: Denn Atomkraft ist aus verschiedenen Gründen kein Klimaretter:

  1. Ja, es ist richtig, dass sich weltweit derzeit 53 Atommeiler im Bau befinden, mit 18 die meisten in China. Und es ist auch richtig, dass Atomkraftwerke mit 104 Gramm pro Kilowattstunde deutlich weniger CO2 emittieren als Kohle- oder Gaskraftwerke. Aber damit enden auch bereits die Vorteile: Im Jahr 2019 hatte Atomkraft einen Anteil von 4,3 Prozent an der weltweiten Energieerzeugung, die Kohle kam dagegen auf 27 Prozent. Bei aktuell 415 in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken kann jeder im Dreisatz ausrechnen, wie viele Atomkraftwerke man bauen müsste, um die klimaschädliche Kohle zu ersetzen: 2600.
  2. Ein solch massiver AKW-Ausbau würde das bereits bestehende Sicherheitsrisiko dramatisch vergrößern und die jeweiligen Staaten wirtschaftlich enorm belasten. Denn vor allem aus wirtschaftlichen Gründen wurden komplette nationale AKW-Neubauprogramme abgebrochen oder ausgesetzt – zum Beispiel in Chile, Indonesien, Jordanien, Litauen, Südafrika, Thailand und Vietnam. Jeder achte Neubau der Nukleargeschichte wurde vor seiner Inbetriebnahme aufgegeben – mit dramatischen finanziellen Auswirkungen für die Atomkonzerne. Der historisch wichtigste AKW-Bauer Westinghouse (USA) musste Insolvenz anmelden, die französische Areva, die sich selbst zum „Weltmarktführer in der Atomenergie“ ernannt hatte, von der staatlichen Electricité de France (EDF) übernommen werden, um die Insolvenz abzuwenden. Areva hatte über einen Zeitraum von sechs Jahren einen Verlust von 10,5 Milliarden Euro angehäuft.
  3. Verursacht haben die finanziellen Schwierigkeiten zum großen Teil Neubauprojekte hochgepriesener Reaktoren der dritten AKW.Generation, deren Fertigstellung sich immer weiter hinauszieht und deren Kosten dramatisch wachsen. Im finnischen Olkiluoto wird unter Federführung von Areva der erste europäische Druckwasserreaktor (EPR) gebaut. Baubeginn: 2005, geplante Fertigstellung: 2009, kalkulierte Kosten: 3 Milliarden Euro. Aktuell soll der Reaktor Anfang 2022 fertig werden, 13 Jahre später, Kosten aktuell: 11 Milliarden Euro. Vergleichbar der Bau des Meilers in Flamanville/Frankreich. Baubeginn: 2007, geplante Fertigstellung: 2012. Der Reaktor soll 2023 ans Netz gehen. Die Kosten werden inzwischen auf knapp 12,4 Milliarden Euro geschätzt. Im Dezember 2018 begann die EDF mit dem Bau des ersten Meilers von Hinkley Point C in Großbritannien. Bereits 2017 wurden die Kosten auf 9,8 Milliarden britische Pfund veranschlagt – viereinhalbmal so viel, wie ursprünglich für den ersten EPR in Finnland kalkuliert worden war. Der weltweit erste EPR, der ans Netz ging, ist Taishan-1: gebaut in China zwischen Oktober 2009 und Juni 2018, ebenfalls deutlich hinter dem Zeitplan und mit erheblichen Kostensteigerungen. Der Bau neuer AKW dauert viel zu lange und ist viel zu teuer, um zur Lösung der Klimakrise etwas beitragen zu können. Dabei sind die ungelöste Endlagerfrage und die gesundheitsschädigende Uranförderung bei den Kosten noch nicht einmal berücksichtigt. 2020 wurden weltweit fünf Reaktoren ans Netz gebracht – sieben weniger als geplant, gleichzeitig wurden sechs endgültig stillgelegt.
  4. Von der Atom- Lobby wird behauptet, dass die im Entwicklungsstadium befindlichen Atomreaktoren der vierten Generation die Lösung seien. Diese Flüssigsalzreaktoren (Molten Salt Reactor und dessen Weiterentwicklung Molten Salt Fast Reactor) sind nach einem Bericht des Wissenschaftlichen Diensts des Deutschen Bundestags vor 2060 kommerziell nicht verfügbar. Die Klimafrage ist bis dahin längst entschieden.
  5. Auch Konzepte sogenannter Kleiner modularer Reaktoren (SMR) werden neuerdings als Lösung angepriesen. Russland hat 2020 nach 13 Jahren Bauzeit einen schwimmenden Reaktor realisiert. Und es sind mehrere Start-up-Designs im Umlauf, darunter von Bill Gates‘ Terrapower, NuScale und Rolls Royce. Ihre geringe Größe – in der Regel 300 Megawatt oder weniger – macht sie aber höchst unwirtschaftlich. Außerdem produzieren sie immer noch radioaktiven Abfall. Es ist politisch gewollt, dass die Milliarden Dollar und Euro für ihre Entwicklung und nicht zum Ausbau der Erneuerbaren investiert werden. Dabei sind sie es, die weltweit dazu beitragen, die Klimakrise zu bewältigen.
  6. Am Milliarden-Projekt Fusionsreaktor (ITER) ist Deutschland über den EURATOM-Vertrag unbefristet beteiligt. Zwischen 2007 und 2035 haben die EURATOM-Staaten 18,1 Milliarden Euro dafür zur Verfügung gestellt. Mit seiner Realisierung ist vor Ende des Jahrhunderts nicht zu rechnen.
  7. Hinzu kommt das Risiko der Weiterverbreitung von waffenfähigem Uran: Alle bisherigen Atomreaktoren machen die direkte Entnahme nahezu unmöglich. Beim Thorium-Flüssigsalzreaktor ist die Materialeinspeisung und -entnahme mittels einer eingebauten Aufarbeitungsanlage fester Bestandteil des Reaktors. Eine überzeugende technische Lösung, die eine Verbreitung von bombenfähigem Material zuverlässig verhindern könnte, ist bislang nicht in Sicht. Die vierte Reaktorgeneration vereinfacht damit den Bau von Atomwaffen wesentlich, da sie keine Anreicherung erfordert.
  8. Durch den Abbau von Uran werden ganze Landstriche radioaktiv belastet. Die In-situ-leach-Methode, mit der weltweit heute rund die Hälfte des Urans gewonnen wird, lässt radioaktiv verstrahltes Grundwasser zurück.

Jeder Euro, der in die weitere Förderung von Atomkraft fließt, verhindert den schnellen Umstieg auf Erneuerbare Energien. Rund um den Globus sind sie inzwischen deutlich kostengünstiger als Atomstrom und gegenüber bestehenden Kohle- oder Gaskraftwerken konkurrenzfähig, wie der Uran-Atlas zeigt, den die Nuclear Free Future Foundation 2019 herausgegeben hat. Kosten pro Kilowattstunde: 2-6 US-Dollar-Cent. Das 600 Megawatt-Solar-Projekt „Shuaibah IPP PV“ in Saudi[1]Arabien liefert die Kilowattstunde inzwischen für 1,04 US-Cent – Weltrekord.

In Deutschland kann der gesamte Energiebedarf für Strom, Wärme und Verkehr zu 100 Prozent mit Erneuerbaren Energien gedeckt werden. Und das Ganze dezentral und zu gleichen Kosten. Das hat ein Team des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung um die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert in einer im April veröffentlichten Studie gezeigt. Wir brauchen also weder Kohle- noch Atomkraft. „Insbesondere sind die Vorteile eines vom bisherigen System abweichenden, dezentralen Planungsansatzes zu berücksichtigen, welcher absehbare Netzengpässe einkalkuliert und stärker auf lastnahe Erzeugung bzw. auch Bürgerbeteiligung an Erzeugung und Verbrauch orientiert ist“, schreiben die Studienautoren. Sprich: wir brauchen einen völligen Systemwechsel. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren einseitig große Konzerne bevorteilt und die Beteiligung von Bürgern und Genossenschaften erschwert. Genau das ist der falsche Weg. Von den Parteien, die zur Bundestagswahl damit werben, die Zukunft Deutschlands im Blick zu haben, erwarten wir das Gegenteil.

Mit besten Grüßen

Dr. Horst Hamm

Leiter Nuclear Free Future Foundation,

Die Studie „100% erneuerbare Energie für Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Dezentralität und räumlicher Verbrauchsnähe – Potenziale, Szenarien und Auswirkungen auf Netzinfrastrukturen“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.