Hintergründe zur Energiewende nach Fukushima

 

Peter Becker: Vom Stromkartell zur Energiewende. Aufstieg und Krise der deutschen Stromkonzerne. Frankfurt/M: Deutscher Fachverlag; 3. aktualisierte und erweiterte Auflage 2021; 570 Seiten. 34,00 Euro.

Peter Becker ist Rechtsanwalt, erfahren im Verwaltungsrecht. Er ist Mitgründer der auf Energierecht spezialisierten Kanzlei „Becker Büttner Held“. Die war als Parteienvertreter beteiligt an vielen mit Rechtsmitteln geführten Auseinandersetzungen zu elementaren Interessenkonflikten rund um die Weiterentwicklung der Regulierung der leitungsgebundenen Energieträger, vor allem des Stromsystems. Beckers Einstiegserfolg war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die kommunale Energieversorgung in den Neuen Bundesländern gerettet wurde, nachdem die vier großen westdeutschen Stromkonzerne die kommunalen Stromversorger der DDR-Regierung abgekauft hatten. Seit langem ist er Emeritus. Becker verfügt über ein reiches Insider-Wissen in der Branche der leitungsgebundenen Energien (Strom, Gas). Er „blickt“ intime Details – und nicht nur die, er „blickt“ ebenfalls das strategische Ganze der Konfliktsituationen über Jahrzehnte. Seit langem ist er auch frei, das zu offenbaren.

Für diesen Autor mit seinem exquisiten Wissen gilt zudem Dreierlei:

  1. Becker war mit Hermann Scheer (SPD-MdB) befreundet; aus dieser Konstellation heraus hat sich die Einsicht ergeben, dass die Rechtswissenschaft als ein im Interessenkonflikt mitbeteiligtes Kartell aufgefasst werden kann. Konsequenz war, Wettbewerb in diesem Raum zu schaffen: Man gründete gemeinsam eine alternative Zeitschrift, die „Zeitschrift für Neues Energierecht“ (ZNER).
  2. Becker lässt sich von der Überzeugung leiten, dass der Kampf um die öffentliche Meinung in Machtfragen essentiell sei. Machtfragen werden im Tagesgeschäft durch Manipulation von Details entschieden – in der großen Linie in diesem Kampf entscheidend seien aber Narrative, die von Interessenten geprägt werden.
  3. Becker ist als Autor uneitel – und er ist erfahren im Urheberrecht. Deshalb leitet seine Autorschaft ein Prinzip, welches in der Wissenschaft unüblich ist, für den Leser aber große Vorteile bringt: Er erkennt den Wert dessen, was andere, weit Erfahrenere, bereits bestens formuliert zu Papier gebracht haben und verzichtet deshalb darauf, es selbst umformulierend aufzuschreiben. Er gibt vielmehr anderen im Wortlaut Raum in „seinem“ Buch, das somit auch patch-work-Charakter nach dem „best-of“-Modus erhält.

Das auf Basis dieses einzigartigen Know-hows entstandene Buch hat einen besonderen Charakter. Angezeigt wurde es von mir bereits in der Süddeutschen Zeitung vom 16.10.2011. Anlass des erneuten Hinweises ist die Vorlage einer dritten Auflage. Die enthält gegenüber der zweiten Auflage von 2011 eine Erweiterung mit einem Umfang von 200 Seiten. Diese Erweiterung ist ein eigenständiges Buch – und heißt auch „3. Buch“.

Zur Perspektive des Autors: Recht ist geronnene Macht, Macht spielt in der Geschichte. Also bietet der Autor Zugang aus einer Perspektive, die seine zeitgenössischen Erfahrungen (rechts-)historisch einbettet. Beckers Erstaunen ursprünglich erregt hat die außergewöhnliche Dominanz der Stromkonzerne gegenüber dem Staat, die andere Wirtschaftsbranchen so nicht aufweisen. Auch handelt es sich dabei nicht um ein speziell deutsches Phänomen. Protektion der Branche seitens des Staates und dessen defizitäre Treue zu seiner Schutzverpflichtung für Dritte, die Stromkunden und Anrainer, sind offenkundig – die Zulassung von Kernkraftwerken mit ihrer „Durchgehfähigkeit“ ist beispielhaft. Mit der Ursachenforschung zum Fukushima-Desaster wurde erneut gezeigt, wie in der Kollaboration beider, Stromversorgern und Staat, eine Atmosphäre entstehen kann, in der das offensichtlich Mögliche beziehungsweise Drohende als „unmöglich“ erscheint. Daraufhin kann Vorsorge gegen den geringwahrscheinlichen Katastrophenfall entfallen. Also tritt er ein.

Das existenzielle Ausmaß der Abhängigkeit Deutschlands von Erdgasbezügen aus Russland ist gemäß demselben Ausblendungs-Mechanismus „produziert“. Es handelt sich dabei um ein „kulturelles“ Phänomen, es ist völlig politikunabhängig. Parteien und Programmatiken, so unterschiedlich sie auch sein mögen, spielen empirisch kaum eine Rolle, so die Erfahrung aus der geschichtlichen Vogelperspektive. Dies sucht Becker „mit seinem geschärften Blick für die Triebkräfte hinter unscheinbaren rechtlichen Regeln“ (S. 2) verständlich zu machen.

Becker erklärt sich dieses Phänomen daraus, dass die Stromunternehmen lange im staatlichen Besitz, Teil des Staates also, waren, dann aber von ihm abgetrennt wurden. Es handele sich gleichsam um ein Symptom eines Amputations-Traumas. Um das deutlich machen zu können, gibt er als Eingangskapitel das vergriffene, von einem Journalisten (Karweina) verfasste Buch „Der Stromstaat“ in stark kondensierter Form wieder. Der 170-Seiten-Teil des vergriffenen Buches zur Geschichte der Elektrizitätswirtschaft im Deutschen Reich, bis 1945, ist von Becker auf 40 Seiten verdichtet worden.

Der Ertrag für den Leser: Die in der Historie angelegte Struktur der treibenden Kräfte kommt bestens heraus, und zugleich bleibt die Anschaulichkeit und Farbigkeit des ursprünglich journalistischen Ansatzes erhalten. Nebenher darf sich der Leser der Faszination aussetzen, die von Machtkämpfen und Friedensschlüssen insbesondere auf (große) Buben ausgeht. Es geht um die historische Spezialspezies „Elektrofrieden“. Solche wurden im letzten Jahrhundert in Deutschland mehrfach geschlossen, zum Beispiel mit dem ‚Demarkationsvertrag’ (sic!) zwischen RWE und EEW am 10. März 1908 oder, weit bedeutender, dem zwischen Preußen und RWE im Jahre 1927. Becker selbst berichtet aus der Geschichte des deutschen Wettbewerbsrechts (GWB) nach 1945, wie es dazu kam, dass das so asymmetrisch angelegt wurde: Fusionen können aufgrund von Prognosen zugelassen werden, sind sie aber einmal zugelassen und haben sich anders entwickelt als prognostiziert und haben zu Fehlentwicklungen in der Wettbewerbskonstellation geführt, so können sie nicht wieder beseitigt werden. Die Option einer Zerschlagung von einmal aufgewachsenen Konzernen wurde nicht ermöglicht. Anders ist das geregelt im Mutterland aller Wirtschaftsliberalität, in den USA. Die USA waren es, die nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschlands herrschenden Kreisen das GWB aufzwangen (Kap. 11), gegen den Widerstand der deutschen Großindustrie mit ihrer ausgeprägten Kartell-Geschichte, von der sie nicht lassen wollte. Folglich gibt es für die Entwicklung von Unternehmen nur eine Richtung: die der „Marktbereinigung“ qua Expansion. Die Verfassung des Aktienrechts tut das Ihre dazu.

Ein gutes Beispiel mit wieder aktuell gewordener Relevanz bieten die Fusion von Eon mit Ruhrgas im Jahre 2003 (Kap. 15 Nr. 7) und deren Folgen – herbeigeführt mit einer Ministererlaubnis, gegen die Untersagung der (abhängigen) Kartellbehörde und das Votum der unabhängigen Monopolkommission. Eon war damals der größte deutsche Stromversorger, Ruhrgas, die sich intensiv bei Beschaffung und Vertrieb von Erdgas vor allem aus Norwegen und Russland engagiert hatte, hatte damals die Hälfte des Gasabsatzes in Deutschland unter Vertrag. Die Ministererlaubnis musste begründet werden, wozu die Monopolkommission Stellung zu nehmen hatte.

Im Zentrum des Vorgangs stand die Sicherheit der Versorgung mit Erdgas. Der Wirtschaftsminister argumentierte, der Zusammenschluss ermögliche die Aufstockung der bestehenden Ruhrgas-Beteiligung an Gazprom auf 10 Prozent sowie die Beteiligung am Bau einer neuen direkten Ferngasleitung (was dann Nord Stream 1 wurde). Die qua Beteiligungserhöhung vertiefte Beziehung zu Gazprom erhöhe die Versorgungssicherheit, ein Gemeinwohlanliegen, und das sei wichtiger als die vom Bundeskartellamt ins Feld geführte Schädigung des Wettbewerbs auf Deutschlands Strom- und Gasmärkten.

Die Wettbewerbskommission hielt dagegen, mit dem Naheliegenden: Eine Konzentration der Gasbeschaffung auf Gazprom sei das Gegenteil von Diversifizierung und mindere die Versorgungssicherheit. Zudem zeigte die Wettbewerbskommission Unverständnis darüber, dass die Bundesregierung von der Möglichkeit einer Bevorratungsvorgabe durch Rechtsverordnung keinen Gebrauch gemacht habe und Ruhrgas von der im Jahre 1979 erlangten Lizenz, in Wilhelmshafen einen Terminal für den Import von LNG einzurichten, keinen Gebrauch mache.

Die Abhängigkeit Deutschlands von Pipeline-Erdgas aus Russischen Quellen, die sich inzwischen als existenzbedrohend offenbart hat, entspringt dieser Phase der deutschen Wirtschaftspolitik. Hinter ihr stand die Vorstellung der Regierung Schröder, die deutsche Tradition der Wettbewerbspolitik nach 1945 sei ein Irrweg. Deutschland benötige eine aktive Industriepolitik und die müsse dafür sorgen, dass sich große deutsche Unternehmen auf globalen Märkten als „Champions“ durchsetzen.

Gegenstand des neuen dritten Buches ist die Geschichte der Energiewende in Deutschland seit Februar 2011, seit dem Atomausstieg nach dem katastrophalen Unglück in Fukushima, den dortigen drei Kernschmelzen. Diese Wende in Deutschland, übertrieben weit „Energiewende“ tituliert, ist eigentlich „nur“ eine Wende im System der Stromversorgung. Da aber mit dem wirtschaftlichen Erfolg von Photovoltaik und Windkraft Elektrizität aus erneuerbaren Quellen zur Primärenergie des neuen post-fossilen Zeitalters zu werden im Begriffe ist, ist der Anspruch auf’s Ganze nicht illegitim. Es geht tatsächlich nicht nur um den Austausch von Kraftwerken alter Art, nach dem Verbrennungsprinzip, wo das Zwischenprodukt Dampf auf Turbinen geleitet wird, wenngleich das von den Regierungen der Merkel-Ära nicht wirklich angegangen wurde.

Von den Großen und Mächtigen in der Stromversorgung wurde der Atomausstieg explizit akzeptiert. Für die Öffentlichkeit war somit nicht recht ersichtlich, was da noch groß strittig dran sein sollte. Doch die Realität ist: Der Kampf um diese Wende wurde mit harten Bandagen ausgefochten. Ergebnis des verbissenen Abwehrkampfes hinter den Kulissen ist eine erhebliche Verzögerung. Hauptkulisse war das allseitige Bekenntnis zum Klimaschutz. Eine Überblicksdarstellung dazu gibt es bislang nicht, Becker liefert erstmals eine, wenn auch lediglich ansatzweise. Die Kampfformen, von denen hier zu berichten ist, sind äußerst verwinkelt in Details der Energie- und Klimapolitik. Zugänglich sind sie nur Experten. Damit kommt die Person des Autors mit seinen Kompetenzen ins Spiel. Und auch dessen Unorthodoxie.

Mit der Ampel-Regierung, mit dem Wechsel in der Zuständigkeit für das Wirtschaftsressort und damit für die Stromwirtschaft, hat das Groß-Reinemachen begonnen – das sogenannte „Osterpaket“ zeigte es erstmals für jedermann. Die Zeit der ambivalenten Politik im Stromsektor, „Klima“ auf dem Preisschild und Bremsen im Kleingedruckten, die unter schwarzen und roten Ministern üblich war, ist zu Ende. Das konnte Becker noch nicht berücksichtigen.

Hans-Jochen Luhmann.