Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand

 

Es ist ein historisches Werk. Es ist aber auch ein Manifest rheinischer Nach-Holocaust-Theologie:

Klaus Wengst, Wie das Christentum entstand – eine Geschichte mit Brüchen im ersten und zweiten Jahrhundert, 351 Seiten, Gütersloh, 2021, EUR 22,‑.

Wenig überraschend schildert Wengst, dass das Christentum aus dem Judentum entstanden ist. Jesus war Jude, die Jünger waren Juden, Paulus war Jude. Die Konflikte der Christen mit den jüdischen Gemeinden waren zunächst innerjüdische Konflikte. Das alles schildert Wengst ausführlich. Es folgte dann der Bruch innerhalb des Judentums. Nach der Wanderung des Christentums in die nichtjüdische römische Welt folgte der Bruch mit dem Judentum. Man könnte das auch die Emanzipation des Christentums vom Judentum nennen. Das tut Wengst aber nicht. Für ihn ist dies ein Sündenfall, ein Geburtsfehler, der sich bis heute durch die Geschichte der Kirche zieht. Wengsts Pointe dagegen ist, und damit folgt er der Theologie der Rheinischen Kirche seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dass die Kirche nicht das Judentum als Volk Gottes ersetzt hat, sondern dass Judentum und Kirche nebeneinander bleibend Volk Gottes sind. Daraus ergibt sich natürlich auch ein neues Verhältnis beider zueinander in der Gegenwart. Um seine Theologie in die Praxis zu führen lässt Wengst seiner Darstellung ein Schlusskapitel mit dem Titel „Was nun?“ folgen.

Wengst führt aus, dass die Verheißungen Gottes für sein Volk unabhängig von dessen Stellung zum Messias Jesus gültig bleiben und rechnet dazu „vor allem die von Nachkommenschaft und Land und von sicherem Leben im Land“. Damit bezieht er die Verheißung des Alten Testaments ungeachtet ihrer Bildhaftigkeit und Symbolik unmittelbar auf die politische Realität des Staates Israel. Ohne Rücksicht auf die Ambivalenz, die darin liegt, dass der Staat auf dem Lande des palästinensischen Volkes gegründet wurde und existiert. Diesen unmittelbaren Übergang von religiösen Texten zur politischen Wirklichkeit würde man in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel islamischen, Missbrauch der Religion zu politischen Zwecken nennen. Der real existierende Staat Israel ist ein politisches Phänomen, kein theologisches oder religiöses. Seine Beziehung zur Thora liegt in der Verantwortung für Fairness, Recht und Gerechtigkeit für alle.

Die Rheinische Kirche hat sich auf dieser Linie bewegt, als ihre Synode 1980 eine Erklärung verabschiedete, in der die Gründung des Staates Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“ genannt wurde. Das stand in der Einleitung zu einem Beschluss, der primär auf ein neues Verhältnis zum jüdischen Volk zielte, und war auch damals nicht unumstritten. Aber es stand eben auch da. An die Palästinenser habe man damals einfach nicht gedacht, sagt einer, der dabei war. Manche oder sogar viele haben das Problem mit der freundlichen Schutzbehauptung zugedeckt, die Israelis hätten das Land ja gekauft. Zwar ist auch Land gekauft worden, aber das deckt kaum einen Zipfel des Problems der Gründung des Staates Israel ab.

Man hat diese Verdrängung 2018 korrigiert, und damit Krach hervorgerufen. In einer Arbeitshilfe der Rheinischen Kirche zur Begehung des israelischen Gründungsjubiläums im Jahre 2018 stand der Satz: „Was für Juden ein Grund zum Feiern ist, ist für andere ein Grund zur Trauer. Den einen hat die Staatsgründung Schutz, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit gebracht, den anderen Vertreibung, Zerstörung, Zwang und Unrecht.“

Diese an sich selbstverständliche Verbeugung vor den Palästinensern rief bei einigen Ablehnung und Empörung hervor. Die jüdischen Gemeinden im Rheinland sagten die Reise einer gemeinsamen Delegation zum Jubiläum ab. Stimmen in der Rheinischen Kirche selbst forderten, dass die Kirche sich von diesen Sätzen distanziere, was diese aber nicht tat.

Diese Verweigerung ist erfreulich. Denn was man hinter dem Protest gegen die zitierten Sätze vermuten muss, ist eine aus Reue und Scham über den Holocaust geborene ideologische Extremtheologie, der in Zusammenhang mit Israel und Palästina die allgemeinen Menschenrechte fremd sind. Man könnte sie eine Aktualisierung der schrecklichen, zum Glück aber wohl nicht historischen Landnahme-Geschichte in 5. Mose,7, nennen. Deutsche sollten auch akzeptieren, was mir ein christlicher Palästinenser in der Altstadt von Jerusalem sagte: „We are paying fort he crimes oft he Germans“.

Wengst schlägt vor, dass Kirche und Synagoge sich öffnen, sich auf dem Weg begegnen und dabei voneinander lernen. Auf dem Cover des Buches ist ein Bild von Kirche und Synagoge, die in Frauengestalt nebeneinander sitzen. Eine hat eine Thora- Rolle in der Hand, die andere eine Bibel. Beide Frauen schauen jeweils in den Text der anderen. Und noch eins: Das Christentum kommt aus dem Judentum, aus beiden zusammen kommt der Islam und insofern gilt das, was oben für die offene Begegnung gesagt ist auch für die Begegnung mit dem Islam. Nicht umsonst gibt es inzwischen Vorschläge, das in Deutschland etablierte jüdisch-christliche Gespräch zu erweitern zu einen jüdisch-christlich-muslimischen Gespräch.

Helmut Falkenstörfer.

Klaus Wengst, Wie das Christentum entstand – eine Geschichte mit Brüchen im ersten und zweiten Jahrhundert, 351 Seiten, Gütersloh, 2021, EUR 22,00.