Michael Köhlmeier: „Der Menschensohn. Die Geschichte vom Leiden Jesu.“

 

Ich stelle heute ein neues, ein fünftes Evangelium vor – so wäre es, wenn das Dogma eines abgeschlossenen Kanons nicht gälte. Der Autor, neben den bekannten und seit knapp 2.000 Jahren etablierten Autoren Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, ist Michael. Sein bürgerlicher Nachname ist Köhlmeier. Er lebt in Hohenems (Österreich), bildet (seit 47 Jahren) mit Monika Haller ein Paar. Bekannt ist er – auch – als ein begnadeter Sagen- und Mythenerzähler, er kann das aus dem Stand – und ist dafür früh ein Star geworden in unserem südlichen Nachbarland. Vor 20 Jahren, so alt ist das hier vorgestellte Buch bereits, hat er sich die (Leidens-)Geschichte Jesu vorgenommen.

Methodisch ist Michael, der sehr erfahrene Erzähler, wie folgt vorgegangen:

  1. Es gilt für ihn seine Maxime: Eine Geschichte darf nicht vom Autor konstruiert werden, sie muss sich vielmehr ergeben, wenn ein Protagonist den Erzähler führt. Als einen solchen Protagonisten hat Michael sich den Jünger Thomas gewählt.
  2. Genutzt wird von Michael neues Material, aus dem Fund von Nag Hammadi (in Ägypten) im Jahre 1945. Michael denkt, dass es sich dabei um eine Sammlung von Jesus-Zitaten handelt, die der Jünger Thomas aufgeschrieben hat. Insofern greift der Evangelist Michael auf eine „originalere“ Quelle zurück als es die anderen vier Geschichten von Jesus („Evangelien“) sind. Der Stoff der Thomas-Sammlung geht aber nur bis zum Gethsemane-Geschehen. Es fehlt etwas, was vom Erzähler auszufüllen ist.

Insgesamt umfasst das neue „Evangelium“ fünf Kapitel. Das letzte, fünfte Kapitel, da geht es um die „Passion“, ist quellenkritisch exakt gehalten. Thomas war da nämlich kein Augenzeuge mehr. Er hatte sich nach der Verhaftung Jesu enttäuscht zurückgezogen und war erst vier Tage später aus seiner Wohnung wieder aufgetaucht. Erst da erfährt er vom Tode Jesu. Er geht daraufhin zu den jeweiligen originalen Zeugen des dramatischen Geschehens und lässt sich berichten, was er als Augenzeuge versäumt hat.

Der Rest des Buches, die ersten vier Teile, bietet eine Entfaltung des Hintergrundes. Zentral ist die Beziehung von Thomas zu Judas, dem späteren Verräter. Dieser Beziehung wegen wird Thomas mit seinem vollen Namen eingeführt, nämlich als Judas Thomas – das ist Judas der Zwilling. Sein „Partner“ ist Judas Iskarioth (= Judas aus Karioth).

Thomas wird als allein lebender Bauingenieur vorgestellt, der mit den Römern kollaboriert, und zwar beim Bau des Systems der Wasserversorgung in Jerusalem – nach dem Vorbild in Rom. Diese Kollaboration verschärft seine Einsamkeit massiv, er wird von seiner Nachbarschaft angefeindet. Er ist, seine Ausbildung sagt es, Rationalist; er kann nicht glauben.

Judas wird eingeführt mit einem atemberaubenden Mythos – der wird hier übergangen. Thomas begreift, dass er in seiner Seele krank ist – und wendet sich deshalb an Judas. In einem langen Gespräch werden sie sich einig, dass Johannes der Täufer da nicht helfen könne. Judas führt Thomas daraufhin zu Jesus. Thomas beobachtet Jesus, notiert dessen oft rätselhaften Worte, um darüber zu grübeln – so entsteht das Konvolut, in dessen Besitz wir Nachkommen im Jahre 1945 kamen.

Zweimal passiert es, dass Thomas‘ Krankheit psychosomatisch wird: einmal im Kontext des Judas-Mythos, dann in der Maria-Magdalena-Geschichte. Da kommt es zur persönlichen Berührung mit Jesus; Thomas fällt erneut in Ohnmacht, wie zuvor beim ersten Mal. Ergebnis des zweiten Mals ist jedenfalls, dass er Jünger Jesu wird.

Als weitere Jünger eingeführt werden, anders als im bisherigen Kanon, die beiden Mitglieder des Hohen Rates, die Sanhedrin Nikodemus und Josef von Arimathäa. Die beiden sind gleichsam „Jünger in pectore“. An dieser Stelle wird von Michael auch Ökonomisches eingeführt – schließlich ist das eine Lebensbedingung. Die zwölf offenen Jünger, so wird erklärt, können nur so leben, wie sie leben, weil sie von Josef von Arimathäa finanziert werden – der ist gleichsam Oligarch, er ist ihr Sponsor, der so mit Hilfe seines Geldes politisch wirkt.

Parallel zur Gruppe der Jünger Jesu gibt es militante Gruppen, die qua Anschlägen gegen die Römer kämpfen. Im Jahre 30 ist es so, dass die Freischärler-Gruppen sich vereinigt haben, ihr Anführer ist Bar Abbas, das ist sein Kämpfer-Name. Bar Abbas heißt: Der Sohn des Herrn/Gottes. Auch diese Gruppen müssen sich finanzieren. Das tun sie durch Plünderung der eigenen Leute, durch deren Terrorisierung – entsprechend entziehen sie sich so selbst ihre Basis.

Die Situation zu Passah im Jahre 30 ist zugespitzt. Von den drei Messias-Aspiranten ist mit Johannes dem Täufer einer getötet, mit Bar Abbas einer in Haft. Bleibt nur Jesus, auf den sich alle öffentliche Erwartung bei dem Fest in diesem Jahre richtet.

In dieser Situation entscheidend ist der Verlauf der Verhandlung zwischen Kaiphas und Pilatus. Deren Rollen werden gänzlich anders dargestellt als im überlieferten Evangelien-Quartett, welches wir kennen und welches dem historisch vorfindlichen Antisemitismus die Grundlage geliefert hat. Basis für die Darstellung in Michaels Evangelium ist das Buch von des israelischen Ex-Richters Chaim Cohn: „Der Prozess und der Tod Jesu aus jüdischer Sicht“ – erstmals erschienen im Jahre 1968. Auch das wird hier nicht vertieft.

Mit zwei Elementen, mit der Basierung der Prozess-Geschichte auf Chaim Cohn und der mythischen Hintergrundgeschichte von Judas Iskarioth, erhalten wir hier von Michael (Köhlmeier) ein Evangelium angeboten, welches den in den vier etablierten Evangelien angelegten Antisemitismus vermeidet.

Methodisch, quellenkritisch, ist das fünfte Evangelium überzeugend; gut zu lesen, wie es ein Evangelium zu sein hat, ist es überdies. Ergo: Ich würde es zur Aufnahme in den Kanon vorschlagen, wenn es denn dafür eine kirchliche Instanz gäbe.

Hans-Jochen Luhmann.

Michael Köhlmeier: Der Menschensohn. Die Geschichte vom Leiden Jesu. München: Piper Verlag; 2001. 140 Seiten.