Davon-Schleichen aus der Energiecharta

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Am 20. Dezember 2023 wird der Austritt Deutschlands aus dem Energiecharta-Vertrag rechtskräftig. Für Investitionsschutzverfahren allerdings gilt eine 20 jährige sogenannte „sunset“-Klausel: Solange hat Deutschland noch mit unliebsamen Klage-Überraschungen zu rechnen. Deutschland hat in der Vergangenheit zwei der 150 Schiedsverfahren „abbekommen“; beide Male haben die Verfahren nicht nur viel Geld gekostet, sie haben auch beide Male erwiesen, wie wenig die Staatsorgane in Deutschland sich darauf eingerichtet haben, dass der Beitritt zum Energiecharta-Vertrag auch institutionelle Folgen hätte haben müssen, um mit drohenden Verfahren angemessen umgehen zu können.

Eines jener Kooperations-Projekte, die nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Gegensatzes mit großen Hoffnungen begonnen und institutionalisiert wurden, ist der Energiecharta-Vertrag (ECT). Er sollte dazu dienen, die Energiesektoren der Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Osteuropas in die europäischen und globalen Märkte zu integrieren. 1991, kurz nach der KSZE-Konferenz in Paris, wurde der Vetrag gestartet, 1994 wurde er in Lissabon rechtsverbindlich unterzeichnet, 1998 trat er in Kraft. Derzeit haben 51 Länder, außerdem die Europäische Gemeinschaft und EURATOM, den Vertrag unterzeichnet oder sind ihm beigetreten. Nicht ratifiziert haben den Vertrag Australien, Island und Norwegen sowie Russland und Belarus.

Belarus und Russland haben erklärt, die Regelungen des Vertrags bis zur Ratifizierung provisorisch anzuwenden, soweit er im Einklang mit ihrem nationalen Recht steht. Der Konflikt: Russland, da schon unter Putin, hatte die Ratifizierung des Energiecharta-Vertrages von der Vereinbarung eines Transitprotokolls abhängig gemacht. Die EU aber meinte, ihre Liberalisierungspolitik für leitungsgebundene Energieträger Russland aufdrücken zu sollen. Russlands Sozialmodell bestand darin, die Gaspreise inländischer Verbraucher mit den Gewinnen Gazproms aus dessen Pipelinegas-Exportmonopol zu subventionieren. „Third Party Access“, wie EU-intern durchgesetzt, hätte Gazproms Renteneinkommen, welches aus dem Export insbesondere in die EU abgeschöpft wurde, nivelliert. Außerdem bestand die EU-Seite darauf, dass die von der EU geforderte Regelung im Transitprotokoll für die EU nicht gelten solle, weil man schon die „richtige“ (marktliche) Ordnung habe.

Das ist Politik der Doppelstandards. Die Haltung des Westens Russland gegenüber war bei diesen Verhandlungen im Grunde dieselbe wie bei denen zur Sicherheitsordnung: Die Entfremdung und Nicht-Einigung auf beiden Feldern ‑ Sicherheit und Wirtschaftsfragen ‑ liefen parallel, gemäß denselben Attitüden. Die Gründe für das Scheitern der Vereinbarungen zu sicherheitspolitischen Fragen, so kann man aus dem Schicksal des Energiecharta-Vertrages lernen, liegen nicht wirklich in einem lediglich sicherheitspolitischen Interessengegensatz. Sie liegen tiefer.

Nun werden auch zu diesem einst blockübergreifend kooperativ gedachten Abkommen Energiecharta-Vertrag seitens der EU die Segel endgültig gestrichen.

Der Energiecharta-Vertrag deckt die gesamte Kette von Energie-Investitionen ab, in Förderung, Umwandlung zu Derivaten, Transport sowie Angebot und Konsum. Entstanden war der Vertrag, wie erwähnt, im geopolitischen Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Damals wollten viele westliche Staaten und ihre Unternehmen aufbrechen, um in die Modernisierung des Energiesektors in Zentral- und Osteuropa (Russland wurde damals noch zu Osteuropa gerechnet) und den Nachfolgestaaten in der Kaukasus-Region zu investieren – wobei sie trotz klimapolitischen Grundsatzbeschlüssen die Herbeiführung einer klimagerechten Energiesituation für diese „Transformations“-Staaten kaum auf der Agenda hatten. Es ging lediglich darum, das alte und absehbar auslaufende Geschäft mit fossilen Brennstoffen und deren Nutzung effizienter zu machen, auch darum, Russland zu befähigen, mit Hilfe westlicher Technologien mehr Öl und Gas fördern zu können. Man behaftete Russland gleichsam bei einem Geschäftsmodell, welches keine wirkliche Zukunft mehr haben konnte, auf diesen fahrenden Zug wollte man auf seiner Reststrecke noch aufspringen. Aber man hatte im Westen Sorgen um die rechtliche Absicherung von Investitionsmitteln erheblichen Umfangs in solchen Staaten ohne gesicherte wirtschaftsrechtliche Tradition. Und angesichts dessen, dass die Investitionen in die Förderung fossiler Energieträger über kurz oder lang zu stranded assets werden mussten, auch mit gutem Recht.

Schlechte Erfahrungen auf EU-Ebene

Eine besondere Rolle spielte das Investitionsschutz-Kapitel des Vertrags dann aber nicht im Verhältnis der EU zu Russland. 150 Verfahren wurden bislang anhängig gemacht, doch die meisten davon zwischen Unternehmen mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten und Regierungen von EU-Mitgliedstaaten. So war das aber nicht gemeint. Das ist einer von zwei prominent vertretenen Gründen, weshalb die EU-Kommission den Mitgliedstaaten den gemeinsamen Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag empfiehlt.

Zum Hintergrund: Messlatte einer ungerechten Behandlung eines ausländischen Investors ist entweder das Prinzip der Anwendung nationaler Behandlung oder das Meistbegünstigungsprinzip – je nachdem, welches Prinzip für den ausländischen Investor vorteilhafter ist. Die Verfahren, vor privat besetzten Internationalen Schiedsgerichten am Sitz der Weltbank geführt, sind außergewöhnlich teuer, weil geschäftstüchtige Juristen eine Art Kartellsituation herbeigeführt haben, was zu Mondpreisen führt. Außerdem fehlt es bei diesem Rechtsweg an Überprüfbarkeit und damit Qualitätssicherung. Die Verfahren sind zudem völlig intransparent. Vor diesem dubiosen Hintergrund hat der EuGH in seiner sogenannten Komstroy-Rechtsprechung (EuGH, Rs. 741/19, Urt. v. 2.9.2021) kürzlich die Machtfrage gestellt: Er hat entschieden, dass Schiedsverfahren nach dem Energiecharta-Vertrag im intra-EU-Verhältnis, also zwischen EU-Mitgliedstaaten und Investoren aus einem Mitgliedstaat, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der Autonomie des Unionsrechts unzulässig sind. Die Schiedsgerichte akzeptieren diese Allein-Zuständigkeits-Reklamation des EuGH aber nicht, die anhängigen Verfahren werden weitergeführt. Es handelt sich um einen quasi-konstitutionellen Konflikt, Ende offen. Diese rechtssystemischen Mängel sind der zweite Grund für den vorgeschlagenen Rückzug der EU

Unter den offenen Verfahren am skandalträchtigsten dürfte das Schiedsverfahren sein, welches von der Nord Stream AG mit Sitz in der Schweiz gegen die EU angestrengt worden ist. Es geht um die auch „Lex Gazprom“ genannte Änderung der EU-Gasrichtlinie, die im April 2019 vom EU-Parlament verabschiedet worden ist. Wegen des Sitzlandes Schweiz ist dieses russische Staatsunternehmen unter dem Energiecharta-Vertrag klageberechtigt.

Teure Erfahrungen in Deutschland

Deutschland hat zwei der 150 Verfahren „abbekommen“. Beide Male war der Staatskonzern Vattenfall der Kläger. Beide Male haben die Verfahren nicht nur viel Geld gekostet, sie haben auch beide Male erwiesen, wie wenig die Staatsorgane in Deutschland sich darauf eingerichtet haben, dass der Beitritt zum Energiecharta-Vertrag auch institutionelle Folgen haben müsste, um mit drohenden Verfahren angemessen umzugehen in der Lage zu sein:

  • Verklagt wurde die Bundesregierung erstens für ein Verhalten des Stadtstaates Hamburg (vgl. Beitrag S. 21ff), auf das sie keinen Einfluss hatte und hat und gegenüber dem sie auch über keine Grundlage verfügt, ihn in Regress zu nehmen. Da hatte eine abtretende Regierung noch auf den letzten Drücker, im Wahlkampf, wo das schon zentrales strittiges Thema war, dem Kohlekraftwerksvorhaben Moorburg am 14. November 2007 eine vorläufige immissionsschutz-rechtliche Genehmigung erteilt, welche eine wasserrechtliche Genehmigung einschloss. Vattenfall behauptete in seiner Klageschrift, am 12. Dezember 2007 einen Investitionsbeschluss in Höhe von 2,2 Milliarden Euro gefasst und vergeben zu haben. Die Wahl führte zu einer „grünen“ Nachfolgeregierung, die ihre Wahlzusage einlösen musste. Sie schränkte die großzügige wasserrechtliche Genehmigung in ihrer abschließenden immissionsschutzrechtlichen Genehmigung – mit fachlichen Argumenten – ein. Vattenfall argumentierte, diese mit hohen und, so wörtlich, „überraschenden“ Auflagen versehene wasserrechtliche Genehmigung habe zu einer erheblichen Einschränkung der geplanten Nutzungszeit des Kraftwerks geführt. Das habe die getätigte Investition in Höhe von 2,2 Milliarden Euro in ihrem Wert auf ein Niveau von 0,8 Milliarden Euro gesenkt – 1,4 Milliarden Euro forderte Vattenfall, der schwedische Staat, von der Bundesregierung. Also gut 60 Prozent der Investitionssumme. Das sieht durchgängig nach einem Unternehmensverhalten aus, welches nur unter dem Anreiz des Energiecharta-Vertrages so ausfiel wie es war. Investitionsschutz kann auch dazu provozieren, konzerninterne Rechtsabteilungen als Profitcenter zu führen.
    Das Schiedsverfahren wurde im März 2011 durch einen Vergleich beendet. Der setzte einen bereits im September 2008 vor dem OVG Hamburg geschlossenen Prozessvergleich als Bedingung. Letzterer Vergleich stellt Vattenfall durch die Aufhebung einiger wasserrechtlicher Auflagen besser als die ursprüngliche Genehmigung. Schadensersatz wurde nicht zugestanden.
  • Der zweite Fall betraf den Atomausstieg im Jahre 2011. Gegen darin enthaltene Entwertungselemente klagten drei (von vier) betroffene private Kraftwerkseigner, einschließlich Vattenfall, vor Gerichten in Deutschland. In diesem Fall war der Einspruch Vattenfalls offenkundig substantiiert. Als einziges unter diesen Unternehmen hatte Vattenfall als ausländisches Unternehmen die Möglichkeit, zusätzlich unter dem Energiecharta-Vertrag Klage zu erheben – und tat das auch. Das Bundesverfassungsgericht entschied im September 2020, dass die AtG-Novelle von 2011 einen Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht darstelle und verpflichtete den Gesetzgeber zu einer Neuregelung. Daraufhin hat die Bundesregierung in außergerichtlichen Verhandlungen mit den Kraftwerkseignern im März 2021 einem Schadenersatz zugestimmt, der eine Zahlung von 1,4 Milliarden Euro an Vattenfall vorsieht. Das Schiedsverfahren unter dem Energiecharta-Vertrag wurde daraufhin am 9. November 2021 eingestellt. Das Verfahren war nicht erforderlich.

Der Abschied Deutschlands

Nun zieht auch Deutschland sich zurück – nach Ablauf der einjährigen Kündigungsfrist. Deutschland steht nicht alleine da mit seinem Vorgehen. Nachdem die polnische Regierung im August 2022 erklärt hatte, vom Energiecharta-Vertrag zurückzutreten, folgten innerhalb kurzer Frist dieselben Erklärungen Spaniens, der Niederlande, Frankreichs und Sloweniens. Die Bundesregierung hat sich am 11. November 2022 darauf verständigt, aus dem Energiecharta-Vertrag auszutreten. Das Beschlusspapier zur „Weiterentwicklung der Handelsagenda der Ampel“ findet sich hier. Am 20. Dezember 2022 wurde offiziell der Rücktritt notifiziert. Ein Jahr später, am 20. Dezember 2023, wird der Austritt rechtskräftig. Für Investitionsschutzverfahren aber gilt eine 20 jährige sogenannte „sunset“-Klausel. Solange hat Deutschland noch mit unliebsamen Klage-Überraschungen zu rechnen. Noch sind die Kohleausstiege in Deutschland nicht in trockenen Tüchern.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>