Erinnerungen und Emotionen mit Hilfe von Bildern

 

Jugend in der Hitlerdiktatur, Feldarbeit, Krieg: All das musste sie erleben. Ihre Lebenserfahrungen, manchmal bittere, manchmal harte, auch fröhliche, tauchen als Bilder in ihren Erinnerungen auf. Eine Reise in die Vergangenheit bedeutet auch, schmerzliche, bewegende Emotionen wieder hervorzurufen. Elisabeth Schneider ist 91 Jahre jung („alt“ nennt sie sich nicht) und leidet an einer leichten Form von Demenz. Sie kann sich kaum noch an ihre Kindheit, ihre Schulzeit und Jugend erinnern – es sei denn, sie hält ihre Alben in den Händen. Und zack: Die Erinnerungen sind blitzschnell wieder da. Bis heute pflegt sie ihre Erinnerungen mit Fotos; Diese Rückblicke auf die Vergangenheit erleichtern ihr das tägliche Leben. Das Fotografieren hat sie schon immer begeistert. Als Jugendliche hatte sie keine eigene Kamera. „Über eine Kamera nachzudenken, war damals ein Luxus, man hat nur ans Überleben gedacht… Als ich im Schwarzwald oder in Bayern wandern war, hatten einige Menschen so tolle Kameras dabei und konnten die emotionalen Momente aufzeichnen… Na ja, meine erste Kamera habe ich mir zusammen-gespart, da war ich Mitte 20, aber damals hatte ich kaum eine Möglichkeit zu reisen“. ‐ sagt Frau Schneider.Seitdem speichert sie ihre Erlebnisse in Bildern… Eine kurze Reise mit einer Dame, die ihre Geschichte anhand ihrer Fotos erzählt.

Welche Rolle spielt die Fotografie für Frau Schneider und was bringen manche Erinnerungen mit sich?

Erste Liebe

Sie tauschten gegenseitig diese Bilder aus…

Unerwartet und mit einem Schmunzeln sagt sie: „Ich verrate dir jetzt ein kleines Geheimnis, das in meinem Kleiderschrank versteckt ist“. Sie zieht diese zwei kleinen Schwarz-weiß-Bilder aus einer alten Hülle heraus, deutet auf diesen jungen Mann: „Er war mein crush – so nennt ihr doch heutzutage jemanden, den ihr ganz toll findet“. Sie strahlt: „Ja, ich war auch mal jung, hübsch und attraktiv. Für ihn habe ich sehr geschwärmt… für „meinen“ Otto… Wir gingen in die gleiche Schule in Eisenach und waren verliebt. Mit Hilfe einiger Freunde haben wir diese Bilder ausgetauscht und einige Briefe geschrieben, die musste ich aber schweren Herzens vor meiner Hochzeit wegschmeißen… damals wussten wir kaum, was Liebe überhaupt ist, nun Schmetterlinge im Bauch hatten wir ja auch. Außerdem waren wir sexuell überhaupt nicht aufgeklärt, wir mussten in der Kriegszeit zum Beispiel marschieren und uns im Bund Deutscher Mädel engagieren… Und das war auch fast alles“. – ergänzt sie. „Ich habe nichts mehr von ihm gehört, sein Bild bleibt so lange ich lebe in meiner Erinnerung“.- sagt sie lächelnd, packt vorsichtig die beiden Bilder wieder ein und steckt sie in eine Manteltasche in ihrem Kleiderschrank. So vorsichtig und liebevoll pflegt sie ihre Erinnerung an ihre erste große Liebe, Otto.

Die Kindheit

Der Zweite Weltkrieg hinterließ sehr starke Spuren in ihrem Gedächtnis. Hunger und Armut waren ihre Begleiter. Sie spricht ungern über diese Zeit. „Wir hatten kaum eine Kindheit, erst die Hitlerzeit und dann der Krieg?! Wir hatten nur eine Puppe, mit der wir nur bei besonderen Anlässen spielten, etwa an Weihnachten. Die Puppe musste lange halten und durfte nicht so schnell kaputtgehen. Im Krieg fegten wir nach einem Bombenangriff die Straßen, arbeiteten auf dem Acker mit, wir sägten Holz, wir lasen Gas ab… ich hackte meistens Holz und sammelte Teekräuter. Und meine Schwester machte den Haushalt… Jeden Mittwoch und jeden Samstag mussten wir drei Stunden mit einem Wimpel marschieren… Ich habe sehr gerne gebastelt. Unsere gebastelten „Kunstwerke“ verkauften wir, damit unterstützten wir die Soldaten im Krieg. Als Kinder mussten wir arbeiten, unsere Kindheit wurde uns genommen, wir lebten in Bunkern und wir arbeiteten“… Sagt sie mit Tränen in den Augen… „Ich bin so froh, wenn ich spielende, lachende, glückliche Kinder mit ihren Eltern sehe…. Kein Kind soll unter Bomben groß werden… In meiner Kindheit und Schulzeit gab es nur Zwang“. So Frau Schneider.

Eltern

„Das sind meine Eltern. Meine Mutter hieß Jenny. Was sie beruflich gemacht hat, weiß ich nicht mehr genau. Sie war während und nach der Kriegszeit vermutlich Hausfrau. Vor dem Krieg hat sie Volleyball gespielt, aber in der Kriegszeit beschäftigte sich keiner mit Hobbys, damals ging es nur um das Überleben“… sagt sie stirnrunzelnd und ist selbst überrascht, dass sie nicht mehr über Ihre Mutter erzählen kann. An ihren Vater kann sie sich besser erinnern. „In Bayern (wo genau weiß sie nicht) ging mein Vater in eine Klosterschule und dort in einem Kloster wurde er aufgezogen. In Bayern hat er Fremdsprachen studiert, fünf Sprachen konnte er, für die damalige Zeit war das sehr ungewöhnlich. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg unterrichtete er in einer Schule in Eisenach. Mein Vater war nicht nur Lehrer, sondern auch Offizier, er kämpfte in beiden Weltkriegen, im Ersten Weltkrieg wurde er schwer verletzt, mit den Folgen kämpfte er bis zum Ende seines Lebens… obwohl er versehrt war, musste er auch in den Zweiten Weltkrieg, er verlor ein Auge. Danach unterrichtete er wieder in der Schule. Er war ein gutmütiger Mensch, soweit ich mich erinnern kann“… – sie macht eine kurze Pause, starrt nach unten und streicht sich über ihr Haar: „Kannst du dir vorstellen, dass mein Opa väterlicherseits Königlich Bayrischer Amtsgerichtsdirektor war?! Er war auch in beiden Kriegen… von der damaligen Zeit erzählt man fast nur über Kriege… Im Zweiten Weltkrieg ist er nach fünf Tagen im Elsass gefallen, den Ort sehe ich fast von meinem Balkon aus“. Sagt sie und sucht nach seinen Bildern, erfolglos. Später stellt sich heraus, dass sie gar keine Bilder von diesem Großvater hat.

Hochzeit

„Das ist mein Hochzeitsbild, unsere Hochzeit war sehr schlicht… das Kleid lieh ich aus, es war kein richtiges Hochzeitskleid. Ich war so froh, dass ich überhaupt ein anderes Kleid hatte als ansonsten im Alltag… und einen Tag zuvor hatte ich keinen Urlaub und sogar an meinem Hochzeitstag musste ich von ganz früh morgens bis um 10 Uhr arbeiten… Danach fuhr ich mit dem Roller nach Hause. Anschließend sind wir zum Standesamt gelaufen, das weiß ich noch… Wie ich meinen Mann kennengelernt habe? Wir arbeiteten zusammen in einer Milchfabrik, es passierte einfach… und wir waren über 60 Jahre glücklich verheiratet… sie lächelt und fährt fort – „Über das Heiraten und das Eheleben war ich nicht aufgeklärt, an sexuelle Aufklärung dachte damals niemand“.

Reisen, Wandern

„Als unsere Kinder klein waren, wanderten wir viel mit ihnen. Als sie größer wurden, begannen wir zu reisen. Oft und immer gerne waren wir in Südtirol. Unfassbar freundliche, offene und herzliche Menschen lernten wir dort kennen. Bis heute sind wir telefonisch oder brieflich in Kontakt und die Schönheit der Natur sollte man selbst dort erleben… Ich habe sogar einige Wanderfreunde, mit denen ich unsere Wandererlebnisse austausche… Wir waren auch sehr viel in Bayern und im Schwarzwald. Dort kenne ich fast jeden Stein und Baum. Pflanzen und vor allem Bäume begeistern mich immer, deshalb habe ich sehr viele Bilder davon… Wir besuchten auch einige Städte, die nach dem Krieg wieder aufgebaut worden waren. Nirgendwo war eine Spur mehr vom Krieg zu finden. Die Menschen wirkten glücklich, gelassen und entspannt. So gehört es sich auch… Meine Generation hat unbeschreiblich Schreckliches erlebt, das war wie ein Trauma, unter Angst und Armut lebten wir über Jahre“… So Frau Schneider, die trotz allem gerne einige Länder bereiste und ihre Erlebnisse auf etwa 60.000 Bildern aufnahm. Bis heute speichert sie sie auf ihren Festplatten.

Einige schöne Erinnerungen

„Nicht die gesamte Kindheit war mit dem Krieg verbunden, trotzdem gibt es einige unangenehme Erinnerungen“.

Und die Kommunion….

„Das ist das einzige Bild von meiner Kommunion“.

„Das Bild wurde bei meiner Kommunion in der Kriegszeit gemacht. Es war in einer still gelegenen Kirche. Auf diese Art und Weise, auf gut deutsch, verarschten war Hitler. Das Kleid, das ich anhabe, lieh ich bestimmt von jemanden aus… Borte wurde auch darauf genäht, sehe ich gerade… damals besaßen wir solche schönen Kleider nicht… wir nähten sie selbst und liehen sie uns gegenseitig aus… das Krasse ist, dass ich am nächsten Tag Vereidigung hatte…. Wenn Hitler gewusst hätte, dass ich einen Tag zuvor in der Kirche war und heimlich Kommunion feierte, säße ich jetzt nicht gemütlich hier in meiner Wohnung“… sagt sie lachend und fährt ohne Pause weiter fort: „Bei der Vereidigung hatten wir Uniform an, es war ein Zwang, da mitzumachen… Ja, weder Lebensmittel noch Kleidung konnten wir einfach so kaufen. Für Lebensmittel wurden Bezugsscheine verteilt, die Menge war begrenzt und für die Kleidung bekamen wir Kleidermarken. Nur das Nötigste konnten wir damit kaufen… jemand wird heutzutage denken, dass die Alte spinnt, aber es war damals so und in der Zeit hat meine Generation gelebt.

Es geht immer weiter

Gewöhnlich steht sie jeden Tag sehr früh auf und genießt den Sonnenaufgang. Besonders mag sie den Morgen und betrachten wie einige Menschen sich beeilen, wie die Kinder auf dem Weg zur Schule sind oder die Kleinkinder ins Kindergarten gebracht werden. Vor allem betrachtet sie die Vögel morgens früh am liebsten. „Schade, dass nur wenige Menschen den Sonnenaufgang und Morgen genießen, Sonnenuntergang ist nach meiner Meinung ein bisschen überbewertet, es ist ein Verlauf, in dem etwas endet, für mich könnte es ein letzter Tag meines Lebens sein… aber ja, starke rote Farben bekommt der Himmel und die Wolken beginnen dabei zu schwimmen, genau da knipse ich und habe wieder ein Bild“… Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang fängt sie in ihrem Objektiv ein. „Das ist etwas: was ich immer noch ohne jegliche Hilfe mache, mir bereitet es Freude, meine Bilder als Postkarten zu benutzen und zu verschicken“… und plötzlich: „Weißt du, dass ich auch den zugefrorenen Bodensee erlebt habe? Damals haben wir dort gelebt… es war unerträglich kalt, aber ich und meine Familie hatten eine wunderschöne Zeit auf dem gefrorenen See. Mit den Kindern sind wir Schlittschuh gelaufen und haben Spaziergänge auf dem See gemacht… mein Leben hat mich gelehrt, das Beste aus allem zu machen“.

Es ist beeindruckend, wie sie sich mit Hilfe ihrer Alben meistens an Einzelheiten ihres Lebens erinnert. Stellt man ihr eine Frage über ihre Vergangenheit, ohne ein Bild zu zeigen – antwortet sie „davon weiß ich nichts“ – Mit ihren Fotos erzählt sie fließend über den Krieg, die Vor- und die Nachkriegszeit.

Trotz ihrer komplizierten Lebensgeschichte bleibt sie lebenslustig, spricht sogar in der Jugendsprache und blickt mit Humor in die Zukunft…

Der Beitrag wurde im Rahmen des Seminars „Interaktive Medienethnografien“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im SoSe 2019 verfasst.