Die Mechanik eines Kriegs-„Ausbruchs“: Irak-Krieg und Ukraine-Krieg im Vergleich
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Der Historiker Melvyn P. Leffler von der Virginia University, ein Spezialist für US-Außenpolitik, hat den „Ausbruch“ des (Zweiten) Irak-Krieges im März 2002 minutiös nachgezeichnet. Sein Ansatz und Anliegen ist, die Protagonisten in ihrer damaligen Situation zu verstehen. Lefflers frappierendes Ergebnis wird hier darauf überprüft, ob der Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 auf dem Boden der Ukraine analog verstehbar ist.
Wir gewöhnen uns in Windeseile an überkommene Terminologien. Dazu gehört das seltsam subjektlose Reden davon, dass ein Krieg „ausbricht“. Es ist dann wie bei einem Vulkan, oder wie in der griechischen Welt, dass ein Krieg zwischen Menschen die Widerspiegelung eines Streites der Götter ist, für den die Menschen nichts können.
Der Historiker Melvyn P. Leffler von der Virginia University, ein Spezialist für US-Außenpolitik, hat den „Ausbruch“ des (Zweiten) Irak-Krieges im März 2002 minutiös nachgezeichnet. Methodisch hat er Quellen rund um das Weiße Haus in Washington studiert. Sein Buch trägt den Titel “Confronting Saddam Hussein: George W. Bush and the Invasion of Iraq” (2022). Für Nicht-Spezialisten reicht die Lektüre der Rezension von Gabriel Schoenfeld. Lefflers frappierendes Ergebnis wird hier darauf überprüft, ob der Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 auf dem Boden der Ukraine analog verstehbar ist.
Wie es – gegen die Intention – zum Einmarsch der USA in den Irak kam
Lefflers Ansatz und Anliegen ist, die Protagonisten in ihrer damaligen Situation zu verstehen. Das führt ihn auf ein irritierendes Ergebnis – welchem in der Rezension von Joseph Stieb explizit widersprochen wird; Grund für das irritierende Ergebnis sei Leffler’s „excessive trust in one’s sources, especially memoirs by and interviews with top policymakers“.
Ausgangspunkt ist die Atmosphäre im Weißen Haus nach dem Anschlag vom 11. September 2001, dessen Urheberschaft (Al-Kaida) fast umgehend erkannt war. Dem aber folgten alsbald Brief-Anschläge mit dem Gift Anthrax. Dessen Urheber war unbekannt – und was der noch plante beziehungsweise vorhatte, war ebenfalls unbekannt. Nur dass da jemand war mit Verfügung über ein Massenvernichtungsmittel, das war klar. Schadenfrohe Äußerungen im Irak nach den Anthrax-Anschlägen rückten Saddam Hussein ins Blickfeld. Im Weißen Haus fürchtete man, was Profis nach jedem Bomben-Terror-Anschlag zu erwarten haben: Nachfolge-Anschläge.
“Everyday since [9/11] has been September 12” – mit diesen Worten beschrieb Condoleezza Rice, Bush’s Sicherheitsberaterin, die Atmosphäre im Weißen Haus. “Wir waren alle von der Auffassung besetzt, wir wären den Terroristen einen Schritt hinterher und seien der Gefahr einer zweiten erfolgreichen Attacke ausgesetzt.”
Zwei Wochen nach 9/11 erklärte der US-Präsident den „war on terror“, in seiner berüchtigten Rede mit der ernstgemeinten Formel „Wer sich nicht für uns erklärt, ist gegen uns“. Saddam Hussein, dem die US-Geheimdienste den Besitz von Massenvernichtungsmitteln inklusive nuklearen Kapazitäten zutrauten und unterstellten, erklärte sich nicht für die USA.
Im Weißen Haus sah man die Möglichkeit eines zweiten und noch desaströseren 11. Septembers – schließlich war beim ersten 11. September das Ziel für die vierte Maschine, das Kapitol in Washington, durch den flugzeug-internen Angriff seitens einer Gruppe von Passagieren nur knapp verfehlt worden. Nebenbei: Die Kapitol-internen Bunker, die danach gebaut worden waren, haben sich beim Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 als höchst hilfreich erwiesen für den Schutz von Abgeordneten.
Nach Leffler hatte die Bush-Administration zwei Ziele im Sinn: Das heimische Territorium zu schützen vor einer erneuten Attacke; und zu verhindern, dass ein nuklear aufgerüsteter Irak den Raum des Mittleren Ostens dominiere. Dazu begann man zwei politische Ansätze zu vorzubereiten:
- Einen regime change in Bagdad, zu erreichen durch einen Coup oder durch Druck, der ihn zur Flucht veranlassen sollte.
- Ohne regime change, dann aber müsste Saddam Hussein veranlasst werden, seine Massenvernichtungsmittel abzugeben.
Zentrales Mittel, um Letzteres zu erreichen, ist die sogenannte „coercive diplomacy“ – das zentrale Thema von Lefflers Buch. Das Element des „Zwangs“ in diesem Ansatz bedeutete Androhung einer militärischen Intervention – folglich arbeitete das Pentagon einen Plan für einen Irak-Krieg aus, den Präsident Bush auch bestätigte. Das habe, so beginnt Leffler sein Spiel mit begrifflichen Ambivalenzen, nicht bedeutet, dass ein Krieg geplant (im Sinne von beabsichtigt) gewesen sei. Der Kriegsplan sei lediglich Teil einer Kampagne gewesen, um Druck auszuüben. Präsident Bush und sein Team boten in ihrer Kampagne, auch in den Räumen der UN, an, dass Saddam Hussein im Amt bleiben könne, wenn er “immediately and unconditionally” einwilligte, seinen illegitimen Besitz von Massenvernichtungswaffen offenzulegen und diese zu zerstören. Die Analogie in der Vorgehensweise zu Obamas – erfolgreichen – Ansatz im August 2013, Syrien seine C-Waffen abgeben zu lassen, ist offenkundig.
Nun aber besaß, wie wir heute wissen, Hussein solche Waffen nicht. Unglücklicherweise hielt er auf die US-Geheimdienste solch große Stücke, dass er glaubte, auch die wüssten dies. Er meinte also, die USA blufften – dass sie wirklich einmarschieren würden, war ihm angesichts der Risiken, die damit verbunden waren, unvorstellbar.
Ab Januar 2003 waren die U.S. dabei, rund um den Irak Truppen in Stellungen zu bringen. Sowohl Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als auch Außenminister Colin Powell waren derweilen immer noch engagiert, eine diplomatische Lösung herbeizuführen. Aber Saddam Hussein blieb bei seiner ablehnenden Haltung. Im März 2003 dann war das Problem, dass die Truppen im Feld bereits stationiert waren. Sie konnten dort nicht über Monate bleiben, da der Sommer nahte und die Hitze dann unerträglich werden würde. Sie konnten dort aber nicht untätig bleiben, weil dies die Vereinigten Staaten wie ein Papier-Tiger aussehen lassen würde. Soll heißen: Die USA ihrer Glaubwürdigkeit bei der nächsten Drohung mit Gewalt berauben würde. Die Truppen in Marsch zu setzen, um den angedrohten Zwang zu vollziehen, war ein beinahe unvermeidbarer Schritt in der angelegten Kette von Ereignissen.
„The result, on March 20, 2003, was war.”
Intention war nicht der Einmarsch und was man damit im Irak erreichen könne, sondern der Erhalt der Glaubwürdigkeit des Militärapparates, in diesem Fall der USA. Dazu passte, dass die USA keinerlei Vorbereitungen für die Phase nach einem Sieg über Saddam Hussein getroffen hatten. So also vermag ein Krieg „auszubrechen“, was der Aggressor in gewissem Sinne „nicht gewollt“ hatte.
Nun zum Hintergrund des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022.
Das beidseitige Ziehen an der Ukraine seit 1996
Um die Lagerzugehörigkeit der Ukraine wurde zwischen Moskau und dem Westen seit 1994 gekämpft. Bündnispolitisch wurde das unter Präsident Clinton aus innenpolitischen, wahlkampftaktischen Gründen im Jahre 1996 so entschieden, die Republikaner wollten es auch, seitdem Präsident Jelzin am 2. Oktober 1993 vom russischen Militär aus einer revolutionären Situation gegen die reaktionären Kräfte des Volksdeputiertenkongresses herausgehauen worden war. Wirtschaftsregulatorisch wollte die EU diese Expansion ihres Einflussbereiches im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik seit etwa 2008. Es war also wie beim Kaukasischen Kreidekreis: Zwei Seiten zerrten über mehr als zwei Jahrzehnte an diesem mindestens bi-national bevölkerten Staatswesen, auf dass es sich für eine Seite entscheide – und damit die „Zwischenstaaten“ (vulgo „Pufferzonen“) zwischen Russland und dem Westen endgültig zum Verschwinden bringt.
Die Führungen des ukrainischen Staatswesens reagierten darauf mit einer Schaukelpolitik, die je nach Geschmack mal mehr nach Ost und mal mehr nach West pointiert war. Der Westen akzeptierte das nicht, er unternahm zwei Anläufe, zu einer Entscheidung zu kommen.
- Militärpolitisch beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest. Dort unternahm besagte Regierung Bush den handstreichartigen Versuch, die Ukraine (und Georgien) in die NATO aufnehmen zu lassen. Das gelang nicht, aufgrund des Widerstands von Deutschland und Frankreich, den späteren Partnern im Normandie-Format. Ergebnis war ein Waterloo der NATO. Hier geschildert vom damaligen HSFK-Chefs Müller, wobei er kein Blatt vor den Mund nimmt:
„Heraus kam ein Kompromiss, der dokumentierte, wieweit die internen Debatten im Bündnis … die möglichen Außenwirkungen gar nicht mehr reflektierten: Der NATO-Beschluss erklärte die Aufnahme der beiden Staaten zu einer künftigen Tatsache, aber ohne Terminierung und unter Verzicht auf die unmittelbare Aufnahme eines Membership Action Plans, der jeden Beitritt vorbereiten muss; ein „intensives Engagement“ zur Beseitigung der Hindernisse wurde indes angekündigt und somit ein aktiver Prozess in Richtung auf Annahme suggeriert. Georgien und der Ukraine wurde signalisiert: Ihr werdet NATO-Schutz genießen, was seitens des mit einem starken Ego und wenig Realitätssinn begabten georgischen Präsidenten prompt dazu führte, dass er auf die Sezessionisten in Südossetien und deren unter einem OSZE-Mandat firmierenden russischen Beschützer losging. Die Lunte im Fall Ukraine brannte länger, weil dort die Präsidentschaft bei dem Ostukrainer Janukovich lag, der zwischen dem Westen und Russland lavierte und den Beitritt nicht aktiv betrieb. Russland aber wurde signalisiert: Ihr verliert auch noch das letzte Stück „Zwischeneuropa“, aber ihr habt noch Zeit, etwas dagegen zu tun. Grotesker kann man kaum Signale aussenden, wenn man auf dem Minenfeld geopolitischen Wettbewerbs operiert.“
Anders gesagt: Der Bukarester Beschluss vom 4. April 2008 war eine Einladung an Russland, in der Ukraine einen eingefrorenen Konflikt zu schaffen – was Russland 2014 auch tat. - Die EU begann seit 2008/9 ihr Programm der Östlichen Partnerschaft zu betreiben. Ziel war die langfristige Assoziierung der sechs ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine und Weißrussland an die EU zu befördern. Den Verantwortlichen der EU in Brüssel hätte klar sein müssen, dass eine Assoziierung vor allem der Ukraine als dem größten und wirtschaftlich wichtigsten der sechs Staaten an die EU ohne eine ausdrückliche Abstimmung mit Russland ein hohes Risiko und eine Quelle potentieller Konflikte darstellte. Auch innenpolitisch hatte der EU-Vorstoß Folgen. Er spitzte den zunächst allein inner-ukrainische Konflikt über die künftige politische und wirtschaftliche Ausrichtung des Landes zwischen Russland und dem „Westen“ zu, provozierte gleichsam eine entweder-oder-Entscheidung.
Ergebnis war schließlich eine mit Gewalt herbeigeführte Revolution, die sogenannte Euromaidan-Revolution, die am 23. Februar 2014 zu einem neuen Regime und einer neuen Verfassung führte. Die revolutionäre Aufwallung in diesen Tagen und Wochen erfasste selbstverständlich nicht allein Kiew sondern auch andere Regionen der Ukraine, insbesondere die herkunftsmäßig anders gepolten im Osten, dort mit umgekehrten Vorzeichen. Russland griff ein, spaltete die Krim ab und verhinderte so Revolutionswirren auf dieser für Russland marine-strategisch wichtigen Halbinsel. Im Donbass griff Russland ein, indem es die dortigen Wirren in eine Sezession führte – anscheinend getreu der Einladung, die die NATO 2008 in Bukarest ausgesandt hatte.
Die Zentralregierung in Kiew versuchte, die Sezession im Donbass mit (halb-)militärischen Mitteln zu unterbinden. Dazu legitimierte sie zunächst, in Eile und unbesehen, die irregulären Kräfte, die in Kiew die Revolution zum Erfolg geführt hatten, und verfügte anschließend deren Verlagerung in den Osten, um den Ausfall des formellen ukrainischen Militärs (UAF) zu kompensieren. Das endete in einer offenen Feldschlacht mit den unerfahrenen Freiwilligen-Verbänden, in der Russlands Streitkräfte sich als weit überlegen zeigten.
Die beiden Abkommen von Minsk, für die Ukraine von Bundeskanzlerin Merkel verhandelt, überführten die militärische Unterlegenheitsposition der Ukraine in eine fragile rechtlich formierte Patt-Situation. Strukturell konnte es nicht anders sein, als dass der damalige ukrainische Präsident Petroschenko in seiner objektiven Not Zusagen machen musste, deren Erfüllbarkeit angesichts der Stimmung im Lande und der Machtverhältnisse in Kiew von Anfang an in Zweifel stand. So kam es dann auch.
Zwischenepisode Mai 2019 bis Oktober 2020: Selenskyi sucht den Ausgleich mit Moskau
Ich hatte das Minsk-Abkommen immer verstanden als gestrickt nach dem Muster des Umgangs mit der deutschen Teilung: militärisch befrieden, rechtlich alles offenhalten, zu einem praktischen Modus vivendi kommen – und abwarten, bis sich ein Kairos à la Brandt/Bahrsche Ostpolitik ergibt. Poroschenko ist in seiner Amtszeit diesem Verständnis der Einigungen von Minsk nicht gefolgt – er konnte es nicht, innenpolitisch fehlten ihm die Mittel dafür, er war dafür nicht hinreichend Herr im Hause.
Anders Selenskyi. Dieser russisch-sprachige und in Moskau ausgebildete Schauspieler trat in 2019 als politischer Außenseiter an und gewann überlegen beide Wahlgänge (getrennt für Präsidentschaft und Legislative) sensationell und unerwartet mit dem Versprechen, zu einer Verständigung mit Russland zu kommen und den Krieg zu beenden. Augenöffnend ist der Aufsatz von Arkady Moshes und Ryhor Nizhnikau; demnach hat Selenskyi drei Wochen nach Amtsantritt, am 3. Juni 2019, verkündet, die Minsk-Abkommen umsetzen zu wollen. In den Monaten danach übernahm er schrittweise die Forderungen Russlands als ukrainische Position, bis hin zur Akzeptanz der sogenannten Steinmeier-Formel. Selenskyi hat somit den Brandtschen Ansatz nach seiner Wahl 2019 versucht – und dann im Herbst 2020 abgebrochen. Das zentrale Phänomen mit diesem Versuch ist das Doppelte.
- Putin hat das Angebot Selenskyis nicht aufgenommen sondern ins Leere laufen lassen. Was die strategischen Überlegungen und Gründe dafür gewesen sein mögen, ist unbekannt; Darstellungen aus russischen Quellen liegen nicht vor. Man wird aber vielleicht schließen dürfen: In Moskau wollte man den Konflikt nicht befrieden sondern weiter schwären lassen. Der Kairos, der in Deutschland bereitlag und zu seinem historischen Glück geführt hat, lag im Ukraine-Fall zu diesem Zeitpunkt nicht vor.
- Selenskyi hat diesen seinen Versuch im Oktober des Jahres 2020 aufgegeben. Das aber nicht allein wegen der kühlen Schulter, die ihm aus Moskau gezeigt wurde, sondern eindeutig wegen des Ergebnisses der Regionalwahlen in der Ukraine. Da waren die Werte seiner Partei massiv eingebrochen. Er erkannte somit, dass er mit diesem Kurs des Ausgleichs mit Russland seine Machtbasis zu verprellen im Begriffe war, weil er dafür keine Unterstützung in der Bevölkerung fand. Die Bevölkerung war anscheinend eher bereit zur Konfrontation.
Der „turn“ Selenskyis wurde auch militärisch materialisiert, in seinem Dekret vom 24. März 2021 „über die De-Okkupation und Rückeroberung der Krim und der Donbass-Region“. Damit wurden auch real Truppen der UAF in erheblichen Umfang gen Osten verlagert. Das wiederum war Anlass für den russischen Truppenaufbau an den Grenzen der Ukraine ab April 2021. Die offenen Fragen dazu sind:
- Wie relevant für das militärische Kräfteverhältnis war die militärpolitische Unterstützung der UAF seit 2017, durch USA, Kanada und UK? Das geschah mit der US-offiziellen Programmatik, “to help Ukraine preserve its territorial integrity, secure its borders, and improve interoperability with NATO.” “to preserve its territorial integrity” ist eine rechtliche Formel, die in Klartext übersetzt bedeutet: „helfen, die besetzten Gebiete im Donbass und die Krim rückzuerobern“.
Bruno Tertrais sagt, militärisch sei die im Gefolge des Dekrets vom 24. März 2021 entstehende Situation für Russlands Militär albtraumhaft gewesen. Sie hatten einen Überraschungsangriff zu fürchten, liefen also Gefahr, in die Situation zu geraten, einen erfolgreichen Vorstoß, beispielsweise auf die Krim, dort zurückschlagen zu müssen. Dann müssten sie Krieg führen auf russischem (für russisch erklärtem) Territorium – was mit dem Ergebnis des Zweiten Weltkriegs ausgeschlossen sein sollte.
Methodisch ist an dem Vorgang bemerkenswert, dass für Moskau sicherheitlich weniger die Frage relevant wurde, ob die Ukraine der NATO beitritt, als vielmehr was NATO-Militärs ungeachtet der Blockade im NATO-Rat in Kooperation mit den ukrainischen Streitkräften an Fakten schufen, also, so Tertrais‘ Wortspiel: Weniger „Ukraine in NATO“ war das Problem, als vielmehr „NATO in Ukraine“. - Bedingung für die von Europa im Normandie-Format geführte Mediation im Konflikt um die Donbass-Region war die Zusage, die unter US-Präsident Obama Bundeskanzlerin Merkel gegeben wurde, keine militärische Unterstützung an die UAF zu geben. Zu vermuten ist, dass diese Zusage mit Präsident Trump, mit der Zerrüttung des Verhältnisses zwischen ihm und den Verbündeten, auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurde. War es dann wirklich so, dass die militärische Zusammenarbeit ohne strategische Absicht, sondern mehr im Selbstlauf der Militärs, ihren Lauf nahm?
War der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 vergleichbar unintendiert?
Seit April 2021 baute Russland seinen schließlich enormen Truppenbestand an den Grenzen der Ukraine auf. Eine Unterbrechung des Truppenaufbaus gab es einmal, im Juni 2021 – da stoppten die USA eine Waffenlieferung an die Ukraine im Wert von 100 Millionen US-Dollar, nachdem Russlands Präsident angekündigt hatte, seine Truppen zurückzuziehen. Das tat er auch, aber unter Zurücklassung des schweren Materials in Grenznähe. Offenbar hatte es zum Truppenaufmarsch quid-pro-quo-Verhandlungen zwischen den USA und Russland gegeben.
Am 16. Juni 2021 trafen sich die Präsidenten Biden und Putin persönlich in Genf – den dort zu startenden „strategischen Dialog“ hatten die beiden nach Amtsantritt Bidens umgehend vereinbart, nachdem sie sich problemlos auf eine Verlängerung des New-START-Abkommens geeinigt hatten. In Genf wurden dafür die Arbeitsgruppen eingesetzt, die dann auch mit ihren Gesprächen begannen.
In den Sommermonaten hörte man vom russischen Truppenaufbau eigentlich gar nichts. In Deutschland war Wahlkampf, es wurde gewählt, ein Koalitionsvertrag verhandelt, eine neue Regierung wurde schließlich am 7. Dezember 2021 gebildet – derweilen auf weltpolitischer Bühne die US-Geheimdienste im November Alarm schlugen hinsichtlich der russischen Intentionen mit ihrem stetigen Truppenaufbau. Entscheidend für den Kriegsausbruch war vermutlich das zweistündige Telefonat, welches die beiden Präsidenten am 7. Dezember 2021, also exakt am Tage des Amtsantritts der Ampel-Regierung in Deutschland, miteinander führten.
Vereinbart wurde da schließlich zwar ein Dialog zu den sicherheitspolitischen Grundlagen des Verhältnisses von USA und NATO zu Russland – dazu legte Russland auch alsbald Entwürfe für Abkommenstexte vor. Doch die Haltung des Westens dazu war dilatorisch, dies habe Thema eines langfristigen Gesprächsprozesses zu sein – er ließ den coercive diplomacy-Ansatz Putins ebenso ins Leere laufen wie es Saddam Hussein 18 Jahre zuvor mit den USA getan hatte. Darauf konnte sich der russische Präsident mit seinen stehenden Truppen von geschätzt 170.000 Mann natürlich nicht einlassen.
Letztlich war damit entschieden, dass es zum Einmarsch Russlands in die Ukraine kommen würde. Daran änderten auch nichts mehr die Gespräche mit US-Emissären, die am 30. Dezember 2021 und abschließend am 12. Februar 2022, noch folgten, als die USA bereits den Abzug ihres Botschaftspersonals aus Kiew verkündet hatten.